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Umstrittene Praxis bei Berliner PolizeiSchmerzgriffe unter Verschluss

Das Portal FragDenStaat strengte eine Klage auf Akteneinsicht zu den umstrittenen Schmerzgriffen der Polizei an – das Verwaltungsgericht lehnte sie ab.

Wegtragen statt Schmerzgriff: das würden viele Ak­ti­vis­t*in­nen bevorzugen Foto: Paul Zinken/dpa

Berlin taz | Laut der Anwältin der Klageseite hat das Verwaltungsgericht Berlin am Donnerstag eine Klage gegen die Berliner Polizei bezüglich der Herausgabe von Schulungsmaterial zu den umstrittenen Schmerzgriffen abgelehnt. Kara Engelhardt, eine Mitarbeiterin des Informationsfreiheitsportals FragDenStaat hatte die Klage angestrengt, nachdem sich die Polizei 2022 geweigert hatte, auf eine Anfrage mittels des Informationsfreiheitsgesetzes hin FragDenStaat die Schulungsunterlagen zur Verfügung zu stellen. Diese seien Verschlusssache, so die Berliner Polizei.

Schmerzgriffe, auch Nervendrucktechniken genannt, werden von Polizeibeamten oft an Demonstrationen gegen Protestierende eingesetzt, um sie zur Aufgabe von Blockaden zu bewegen. Die Griffe sind verschiedenen Kampfsporttechniken entlehnt. In die Debatte gelangten die Schmerzgriffe, insbesondere im Zuge der Sitzblockaden von Umweltgruppen in den letzten Jahren. Die Praxis ist umstritten. Und das auch in Polizeikreisen selbst; in Bayern etwa greift die Polizei nicht zu diesem Mittel.

Ak­ti­vis­t:in­nen berichten immer wieder über unverhältnismäßigen Einsatz von Schmerzgriffen, etwa bei Sitzblockaden, wo man Demonstrierende auch wegtragen kann, ohne ihnen absichtlich zusätzliche Schmerzen zuzufügen. Die Polizei stellt sich auf den Standpunkt, dass sie im Rahmen des Gesetzes auch körperlichen Zwang anwenden könne, um die öffentliche Ordnung im Angesicht renitenter Demonstrierenden wieder herzustellen. Diese Techniken böten weniger Verletzungsgefahr als wenn Menschen aus Blockaden weggetragen werden.

Das Vorgehen gegen die Klimabewegung habe gezeigt, wie wichtig es sei, demokratische Öffentlichkeit über Zwangsmittel wie Schmerzgriffe herzustellen, sagte die Klägerin Kara Engelhardt nach der Verhandlung. Die Öffentlichkeit wisse nicht, unter welchen Bedingungen und nach welchen Abwägungen dieses gewaltvolle Zwangsmittel eingesetzt wird. FragDenStaat verweist auf eine Doktorarbeit aus dem Jahr 2022 an der Uni Regensburg von Dorothee Mooser. Darin schreibt Mooser „Die Nervendrucktechniken stellen eine unzulässige Maßnahme der Polizei dar und können gegen Menschenrechte verstoßen.“ Selbst gegen die Europäische Menschenrechtskonvention, das Folter verbietet, könnten die Griffe verstoßen.

Beschränkung des Rechts auf Akteneinsicht

Die präsidierende Richterin, Verwaltungsgerichtspräsidentin Erna Xalter, verwies im mündlichen Verfahren, insbesondere auf die Paragrafen 9 und 11 des Berliner Informationsfreiheitsgesetzes. Paragraf 9 beschränkt das Recht auf Akteneinsicht, wenn damit die behördliche Arbeit eingeschränkt wird. Die Schulungsunterlagen sind als „Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch“ (VS-NfD) klassifiziert. Diese Designierung wird immer mehr verwendet, um behördeninterne Praktiken oder Vorgänge vor Zugriffen durch das IFG zu schützen, eine Praxis, die Trans­pa­renz­ak­ti­vi­st:in­nen als undemokratisch und gegen den Geist des IFGs bewerten. Paragraf 11 des IFGs schränkt denn auch Akteneinsicht bei „Gefährdung des Gemeinwohls“ ein.

Die Vertreterinnen der Berliner Polizei verwiesen darauf, dass sich bei einer Öffentlichmachung der Trainingsunterlagen, in denen erörtert wird, wie Schmerzgriffe funktionieren und einzusetzen sind, Menschen, gegen die diese Griffe potenziell eingesetzt werden würden, in „Camps“ oder Workshops auf die Schmerzgriffe vorbereiten könnten, um so ihre Wirkungsmächtigkeit zu untergraben. Eine Offenlegung würde die innere Sicherheit des Landes Berlin beeinträchtigen. Das untergrabe die „Überraschungswirkung“ der Schmerzgriffe. 2018 hatte das Oberverwaltungsgericht Lüneburg festgelegt, dass Zwangsmittel, wie Taser oder Pfefferspray (wie auch Schusswaffen), nicht ohne Androhung eingesetzt werden dürfen.

Vivian Kube, die Anwältin, die FragDenStaat vertritt, gab zu bedenken, dass viele der Griffe bereits bekannt seien. Viele Videos, die ihre Anwendung dokumentierten, zirkulieren im Internet. Vielmehr würde eine weitere Bekanntmachung die Abschreckungswirkung verstärken. Vergangenes Jahr war FragDenStaat eine veraltete Version des Schulungsmanuals zugespielt worden, auch dadurch weiß man mehr über die umstrittene Praxis.

Ob Kara Engelhardt und FragDenStaat in Berufung gehen, entscheiden sie nach Auswertung der schriftlichen Urteilsbegründung. In der Praxis berichten Ak­ti­vis­t:in­nen immer wieder davon, ohne Ankündigung brutal den Kopf in den Nacken gedrückt zu bekommen, dass Polizeibeamte Finger oder andere Gliedmaßen überdehnen oder an empfindliche Körperstellen stark und damit sehr schmerzhaft zudrücken. Einzelne Beamte seien schon dafür bekannt, besonders schnell und hart zuzulangen. Im Oktober 2023 übergab die Klimaprotestgruppe Letzte Generation dem Berliner Polizeibeauftragten eine Dokumentation von 95 Fällen, in denen die Gruppe unverhältnismäßige Gewaltanwendung moniert.

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