piwik no script img
taz logo

Überschrittene Schmerzgrenze

■ Protest des Pflegepersonals am Krankenhaus Neukölln: Zuwenig Personal und zu viele Überstunden führen nur dazu, daß die PatientInnenversorgung gefährdet ist. 95 Pflegestellen sollen gestrichen werden

Nicht nur für die PatientInnen, sondern auch für das Pflegepersonal ist die Schmerzgrenze überschritten: Gestern protestierten rund 30 PflegerInnen, Pfleger und Ärztinnen des Krankenhauses Neukölln gegen den massiven Betten- und Personalabbau. Der Personalrat ließ Luftballons mit dem Konterfei des Gesundheitsstaatssekretärs Detlef Orwat in die Luft steigen: „Orwat – wir lassen Deine Träume platzen“. Orwat gilt als der wichtigster Wegbereiter für die Politik der Senatsgesundheitsverwaltung. Er setzt sich für die Privatisierung von Krankenhäusern ein und fordert eine noch stärkere Reduzierung der Bettenzahl.

Gründe für den Protest des Personals gibt es genug. „Bei uns findet mittlerweile die Patientenversorgung auf dem untersten Niveau statt“, klagt der Personalratsvorsitzende Volker Gernhardt. Die PatientInnen in dem 1.650-Betten- Haus würden in immer kürzerer Zeit und mit weniger Personal nur noch durch die medizinische und pflegerische Versorgung „durchgeschleust“. 95 Stellen sollen bei den Pflegekräften – der größten Berufsgruppe – gestrichen werden. Das Krankenhaus beschäftigt derzeit einschließlich Teilzeitkräften 1.700 PflegerInnen.

Um sich ein detaillierteres Bild von dem Pflegenotstand des 1986 eröffneten Krankenhauses zu machen, startete der Personalrat vor vier Wochen eine Umfrage auf insgesamt zehn Stationen. Errechnet wurde einmal, wie viele Minuten gebraucht würden, um einen Patienten optimal zu pflegen, und zugleich der tatsächliche Pflegeaufwand für die PatientInnen. Die Ergebnisse waren erschreckend: „Durchschnittlich stehen den Stationen nur 70 Prozent des benötigten Personals zur Verfügung“, hat Gernhardt errechnet. Das führt zu Einschränkungen: „Es kann passieren, daß beispielsweise Ganzkörperwäsche, Rasieren, Frisieren oder Nagelpflege ganz entfallen oder nur eingeschränkt durchgeführt werden können.“

Zum Beispiel auf der Allgemeinchirurgie-Station 47. Hier, wo einfachere Knochenbrüche gerichtet werden, gibt es häufig Engpässe. Nach den Umfrageergebnissen fehlten hier manchmal 60 Prozent der Pflegekräfte, die für eine optimale Versorgung nötig wären. Die 38-Betten-Station sei meist voll belegt, nicht selten stünden Betten auf den Fluren oder gar im Ärztezimmer, so ein Pfleger der Station. Die Patientenzahl habe sich aufgrund der immer kürzeren Liegedauer seit Mai letzten Jahres verdoppelt. Auch die ständigen Überstunden seien ein großes Problem: Gernhardt berichtet von Pflegern, die bis zu 150 Extrastunden vor sich herschöben.

Weil das Krankenhaus aufgrund des Stellenstopps keine PflegerInnen mehr einstellen kann, behilft sich die Leitung mit sogenannten Leihschwestern der Privatfirma Medirent. Doch auch diese sind nicht billig. Sie haben allein in den ersten drei Monaten dieses Jahres jeweils rund 70.000 Mark gekostet. Absurd dabei sei, so der Personalrat, daß gleichzeitig etwa 50 Krankenschwestern mit befristeten Verträgen zum Februar dieses Jahres ausscheiden mußten.

Für den gestrigen Protest hatte die Krankenhausleitung kein Verständnis. Plakate auf den Fluren, die zur Protestaktion aufriefen, wurden abgenommen. Bereits Anfang des Jahres war die Ärtzin Cora Jacoby zeitweise vom Dienst suspendiert worden, weil sie sich öffentlich zum Pflegenotstand geäußert hatte. „Es gibt keine akute Gefährdung der Patienten“, sagt Verwaltungsleiter Ditmar Lotzkat. Auch müsse das Personal nur „vereinzelt“ Überstunden machen, es gebe nur sehr selten Liege-Engpässe auf den Stationen. So wurden laut Lotzkat im ersten Quartal 1997 lediglich 15 Patienten mehr als im Vierteljahr davor aufgenommen. Julia Naumann

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen