: Überraschende Sichtweisen
Erfolg und Misserfolg. Neue finnische und japanische Graphic Novels bieten aufschlussreiche Einblicke in die Comic- und Mangaindustrien
Von Ralph Trommer
Kazuo Shiozawa, seit 30 Jahren als Redakteur eines bekannten Manga-Verlags tätig, beschließt eines Tages seinen Beruf an den Nagel zu hängen. Seine kostbare Mangasammlung zu verkaufen, bringt er jedoch nicht übers Herz. Zu Hause unterhält sich der Junggeselle mit seinem Kanarienvogel. Doch im Verlag wird Shiozawa vermisst. Die von ihm betreuten Künstler durchleben Schaffenskrisen und verlangen nach ihm. Da beschließt er, ein eigenes Manga-Projekt zu initiieren, und fragt dafür gleich mehrere Mangaka an, ob sie sich zeichnerisch beteiligen wollen. Doch manche sind nun bereits selbst ausgestiegen.
Der 1967 geborene japanische Zeichner TaiyōMatsumoto – seit Jahren ein Star des Independent-Teils der Manga-Branche – bekannt durch seine vielschichtigen Werke über Jugendkulturen wie „Tekkon Kinkreet“, „Ping Pong“, „Sunny“ – gewährt in seiner neuesten, auf drei Teile angelegten Serie „Tokyo dieser Tage“ einen authentischen, oft subtil komischen Einblick in die japanische Variante des Comicschaffens. Und beschreibt, wie Manga-Kreative ticken.
Zunächst steht ein unscheinbarer, auf Höflichkeit bedachter Redakteur im Mittelpunkt. Er hat bis vor Kurzem die unterschiedlichen Serien und Magazine eines (fiktiven) Verlagshauses geleitet und die Geschichten der Künstler:innen in gut verkäufliche Form gebracht. Doch im Laufe der Geschichte wird dessen Charakter näher beleuchtet, aber auch die unterschiedlichen Temperamente seiner einstigen Schützlinge. Der übergewichtige Altmeister-Zeichner Chosaku verträgt keine Kritik und bekommt regelmäßig cholerische Anfälle. Der junge Shooting Star Aoki und dessen Allüren treiben seine neue Redakteurin Ririko zur Verzweiflung.
Der renommierte Ex-Redakteur Shiozawa scheint zudem ganz besondere Fähigkeiten zu besitzen. Er versteht seinen Kanarienvogel und kommuniziert mit Toten wie einer gerade beerdigten legendären Mangazeichnerin. Auf der Suche nach Mitstreitern für sein neues Projekt versucht er bekannte Ex-Mangaka zu reaktivieren, die vor einiger Zeit das Hamsterrad verließen und sich nun als Hausmeister oder Supermarktverkäuferin verdingen. Ob es dem „Mangaka-Flüsterer“ gelingt, werden die kommenden Bände erst noch erzählen.
Zeichnerisch ist Matsumoto seit den 1980ern von europäischen Comiczeichnern wie Miguelanxo Prado beeinflusst und hat einen eigenen, leicht schrägen Strich gefunden. Der wirkt sich auch auf die Erzählweise aus. Immer wieder wechselt er seine Perspektiven und entwirft überraschende Sichtweisen. In „Tokyo dieser Tage“ erscheinen die leicht satirisch überzeichneten Charaktere im Laufe der Geschichte immer plastischer und lebensnäher.
Auf nach Paris
Von der europäischen Comicszene und den Höhen und Tiefen einer Künstlerkarriere handelt wiederum die neue Graphic Novel des 1978 geborenen finnischen Zeichners Ville Ranta (u. a. „Kajaani“). Der auch als politischer Karikaturist in seiner Heimat bekannte Künstler greift dabei auf biografische Erfahrungen zurück.
„Wie ich Frankreich erobert habe“ – so der ironische Titel des Buches – entwickelt sich zu einer aufschlussreichen gezeichneten Künstler-Autobiografie. Ranta veröffentlichte sie zunächst in Finnland – und nicht im vermeintlichen Comic-Eldorado Frankreich. Rantas Röntgenblick auf französische Gegebenheiten gerät schonungslos, ist aber auch nicht ganz frei von Larmoyanz. Er erzählt die Geschichte, wie ein Comic-Autor immer wieder versucht im franzöischen Kulturbetrieb, Fuß zu fassen. Dies böte ihm weitaus mehr Möglichkeiten als die kleine finnische Comicszene.
Verschachtelt erzählt Ville Ranta von den wiederholten Versuchen seines gleichnamigen Protagonisten, in Frankreich ein Erfolgszeichner zu werden. Der Beginn ist vielversprechend. „Richart“, ein etablierter Comicstar, lässt ihn seine Szenarios illustrieren. Doch früher Erfolg und Auszeichnungen bewirken keine Folgeaufträge.
Trotz guter Kontakte und vieler Lobhudeleien lassen ihn die französischen „Freunde“ immer wieder hängen. Der des Französischen zunächst kaum mächtige Ville scheint zum Spielball einer oberflächlichen Clique zu werden. Die vergnügt sich auf Comicfestivals wie Angoulême und lässt ihn, den Außenseiter einer unbedeutenden Minination, nicht am Erfolg teilhaben.
Hinter den gefeierten Idolen „Richart“ oder „Léon Choukri“, die von Ranta mit Vogelköpfen dargestellt werden, stecken Frankreichs einst „junge Wilde“ wie Lewis Trondheim (der die Vorlage für Rantas Graphic Novel „Célébritiz“ schrieb) und Joann Sfar. Der umtriebige Comic-Aktivist Lancelot ist ein Zerrbild des einflussreichen Kritikers und Casterman-Verlegers Benoît Mouchart.
Doch Ranta erzählt durchaus auch mit Selbstironie. Er lässt durchblicken, wie naiv er als junger Zeichner war und wie stark der Erfolgsdruck ihn beherrschte. Sein tragikomische Hauptfigur erscheint als ein verlotterter Abkömmling der Pariser Bohème-Künstler-Dynastie des späten 19. Jahrhunderts. Rantas skizzenhaft, locker aquarellierte Bilder erinnern an sein erklärtes Vorbild Joann Sfar und dessen luftig improvisierenden Zeichenstil.
Angesichts des auch in Frankreich existierenden Mangabooms zeichnet Ville Rante ein eher schillerndes und leicht nostalgisches Bild einer Welt von gestern. Ihm gelingt dabei ein amüsantes Sittenbild des französischen Comicmarkts der letzten Jahrzehnte. Ob in Fernost oder in Europa – beide Graphic Novels bieten profunde und satirische Einblicke in die gesellschaftlichen Realitäten hinter die Ware Comic. Und beide machen deutlich, dass viele der „genialen“ Köpfe auch nur Menschen mit Fehlern und Schwächen sind. Sie lechzen nach Erfolg und fühlen sich im eigenen Biotop am wohlsten.
Taiyō Matsumoto, „Tokyo dieser Tage, Band 1“. Aus dem Japanischen von Daniel Büchner. Reprodukt Verlag, Berlin 2025, 216 Seiten, 20 Euro
Ville Ranta, „Wie ich Frankreich erobert habe“. Aus dem Finnischen von Elina Kritzokat. Reprodukt Verlag, Berlin 2025, 164 Seiten, 20 Euro
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