: Überraschende Realität
FOTOGRAFIE Beim wechselseitigen Besuch zweier Fotoschulen aus Addis Abeba und Berlin sind erstaunliche Bilder entstanden
VON INGO AREND
König der Könige nannte der polnische Journalist Ryszard Kapuscinski einst seine Studien über Glanz und Zerfall des äthiopischen Herrscherhauses. Damals waren Kaiser Haile Selassie und sein Reich noch Projektionsflächen wie der Schah von Persien. Dann kam Eritrea. Heute kennt man vielleicht gerade noch Selassies Großneffen Asfa-Wossen Asserate, den äthiopisch-deutschen Unternehmensberater, der vor ein paar Jahren durch seinen Bestseller „Manieren“ bekannt wurde. Dabei reicht die Geschichte des Landes an der Küste Ostafrikas bis ins 9. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung zurück. Und zählt den mythischen König Salomon zu seinen Gründungsvätern.
Angesichts der Leerstelle, die Äthiopien im öffentlichen Bewusstsein hierzulande markiert, kann man das Projekt nicht genug loben, dass die Desta Fotoschule in der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba und die Neue Schule für Fotografie in Berlin im Frühsommer dieses Jahres angestoßen haben: Drei Wochen konnten sich fünf Studierende beider Einrichtungen im wahrsten Sinne des Wortes ein Bild von dem Leben im jeweils anderen Land machen und die Ergebnisse ihrer visuellen Recherchen dann ausstellen: interkulturelle Kommunikation von unten sozusagen.
Wie vielleicht kein anderes Medium bietet die Fotografie die Chance, den fremden, vergleichenden Blick unmittelbar, ohne viele Zwischenstufen umzusetzen. Und auf die gängigen Klischees vom bürgerkriegsgeschüttelten Afrika, dem Kontinent der exotischen Flora und Fauna oder dem der Aids-Opfer trifft man in den Bildern der jungen Fotografinnen zum Glück nirgends. Wenn Susanne A. Friedel in ihrer Farbfotoserie „Workers“ Frauen abbildet, die auf Großbaustellen in Addis Abeba schwere körperliche Arbeiten verrichten, die in Deutschland eher Männer ausführen würden, wird ein überraschendes Stück sozialer Realität sichtbar, die man so nicht erwartet hätte. Und Judith Schenk hat die Macht der Religion und der Rituale der äthiopisch-orthodoxen Kirche dermaßen beeindruckt, dass ihre Bilder vom verglühenden Weihrauch oder von einer Betenden mit dem Gesicht zur Wand einen Zug ins Mystische bekommen haben.
Kirill Semkow war von der sozialen Prägekraft des Glaubens fasziniert. In seiner Serie „Easter“ verfolgt er eine narrative Strategie, die über dokumentarische Schnappschüsse deutlich hinausgeht. Die Szenen auf dem „Merkato“ in Addis Abeba, auf dem die Gläubigen dünne Papierteppiche für das Gebet in der Kirche erstehen, kann man wie eine fortlaufende Bildergeschichte vom Offenen zum Geschlossenen lesen. Herrscht auf dem größten Markt Afrikas noch anarchisches Treiben, stehen die in dem Gotteshaus schließlich in weiße Gewänder Gehüllten stumm im Dunkeln.
Genauso unbefangen gehen die äthiopischen Fotografen vor. Ruth Ademasu war überrascht, in Berlin die Tattoos, die in Äthiopien Frauen aus religiösen Gründen auf Gesicht und Nacken tragen, als Modeinsignien zu finden und hat sie zu Momentaufnahmen verwandelt. Und Naod Lemma befragt mit seiner Suche nach den Menschen, die „in Containern vergessen“ sind, die Träume seiner Mitbürger von einem besseren Leben im gelobten Europa. Viel besser als mit den erwartbaren Bildern von Asylbewerbern in einem Heim in Spandau hat der junge Äthiopier das Problem Migration aber in einer kleinen abstrakten Aufnahme getroffen. Wie eine Metapher zeigt er nur das geschlossene Gitter eines Drahtzauns.
Ob dieser künstlerische Austausch wirklich eine „nachhaltige Verständigung zwischen den Kulturen“ erbracht hat, wie Barbara Schneider von der Neuen Schule meint, bleibt erst noch abzuwarten. Immerhin ist es gelungen, eine wechselseitige Erwartungshaltung aufzubauen. Pablo Ruiz Holsts großartige Männer-Porträts erinnern unverkennbar an den piktorialen Gesellschaftssystematiker August Sander. Ob der Priester im weißen Gewand darauf das Kreuz oder ein alter Mann in traditionellem Gewand einen federbewehrten Häuptlingsstab hält. Alle versuchen, in diesem Moment soziale Stellung zu demonstrieren und zugleich ein Stück authentische Würde zu bewahren. Noch aufschlussreicher ist ihr Blick. Mit einer Mischung aus Freundlichkeit und Skepsis begegnen sie dem Auge des unbekannten Fotografen, dem es, wie er sagt, auf eine wirklich persönliche Begegnung ankam. Als ob die schweigenden Gesichter sagen wollten: Mal sehen, was da noch kommt.
■ „Watching You, watching me“. Neue Schule für Fotografie, Brunnenstr. 188-190. Dienstag bis Samstag 14–18 Uhr, bis 3. Dezember. Zur Ausstellung ist ein Booklet erschienen