Überleben lernen: Eine Ahnung von Seenot
Das Schiff sinkt, der Helikopter muss wassern, Mann über Bord? Im "Sea Survival Center" Cuxhaven bringt Rolf Fremgen das richtige Verhalten im Notfall auf See bei: das richtige Atmen und Im-Wasser-Liegen, den Umgang mit der Schwimmweste, Aufbau und Einstieg in eine Rettungsinsel. Was klingt wie eine ganz spezielle Form von Management-Seminar, sichtet sich an Segler, Hobbypiloten oder auch Techniker von Offshore-Windrädern.
Die Herbstsonne scheint warm durch die großen Fenster des Hallenbads. Wir sind unweit der Nordsee, in Altenwalde, einem Stadtteil von Cuxhaven. Die Temperatur aber fühlt sich tropisch an: Das Wasser in dem 15-Meter-Becken kratzt knapp an der 30-Grad-Marke. Schwitzend sitzen zehn Männer in signalroten Überlebensanzügen auf der Holzbank, watscheln ungelenk über die Fliesen, lachen, schwatzen. Mittendrin steht Rolf Fremgen, ein freundlicher Kumpeltyp, den Bauch in einen schwarzen Neoprenanzug gezwängt. "Lasst euren Muskeln freien Lauf", sagt er scherzhaft und beendet gleich danach mit einem schrillen Pfiff die Spaßrunde.
Fremgen zitiert sechs der Riesenteletubbies an den Beckenrand zu einer Metallwand mit zwei Öffnungen. "Wir üben jetzt den Ausstieg aus einem fliegenden Helikopter kurz über der Wasseroberfläche und den Einstieg in die Rettungsinsel. Alles klar, Männer?", fragt der Oberstabsbootsmann a. D., die Kapuzenköpfe nicken stumm. "Crew prepare! Bail out!", schreit Fremgen und treibt seine Schützlinge nacheinander durch die Nachbildung einer Helikopterluke ins Wasser.
Bei allem Witz: Der ehemalige Soldat lässt keinen Zweifel daran, dass er nicht zum Spaßbaden bittet. Rolf Fremgen ist Spezialist für das Überleben auf See. Bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2004 brachte der 58-Jährige in der Kaserne Nordholz bei Cuxhaven jahrelang Marine-Fliegern bei, wie sie im Seenotfall sich und andere retten können. Daneben zählten auch Seeleute auf Kreuzfahrtschiffen zu seinen Kunden. Nach seiner Pensionierung machte sich der Ausbilder dann mit dem "Sea Survival Center Cuxhaven" selbstständig und trainiert seither Freizeitsegler, Hobbypiloten und andere Zivilisten.
Zusätzlich gibt Fremgen sein Wissen seit diesem Sommer im 2008 gegründeten "Offshore Kompetenzzentrum Cuxhaven" weiter. Erstmals hierzulande können dort Schweißer, Stahlbauer und andere Mitarbeiter der entstehenden Offshore-Windparks lernen, welche Besonderheiten und Risiken zu einem Arbeitsplatz auf hoher See gehören. Entsprechende Nachweise verlangt die Seeberufsgenossenschaft.
Die Männer üben Versetzen, Mann-über-Bord-Manöver, Feuer löschen, Klettern oder auch die Rettung Abgestürzter. Der erste Tag eines solchen einwöchigen Lehrgangs gehört Rolf Fremgen. Vormittags gibts die Theorie zum Thema "Überleben auf See und Helikopterausstiegsverfahren", anschließend folgt die Praxis.
Mittlerweile treibt das halbe Dutzend im Wasser. Die Männer liegen mit aufgeblasenen Schwimmwesten auf dem Rücken, schlagen mit den Armen ihrer dicken Überlebensanzüge und bewegen sich auf diese Weise fort. "Los zur Rettungsinsel!" - "Einer muss hinten festhalten!" - "Steigt nacheinander ein!" - "Helft euch gegenseitig!" - "Lasst in der Insel die Luft aus der Schwimmweste!" - "Raus mit dem Wurfanker!": Rolf Fremgen und seine beiden Assistenten, ebenfalls Bundeswehr-Kameraden, bellen Kommandos durch die Schwimmhalle. Chaos auf dem Wasser. Man zieht und zerrt sich irgendwie in die enge, überdachte, orange leuchtende Insel. Als alle an Bord sind, rudert einer von hinten ohne Rücksicht auf die anderen durch die enge Öffnung und japst nach Luft. Seine Schwimmweste ist noch aufgeblasen, drückt auf die Lungen.
Die Teilnehmer reagieren sichtlich nervös, verspüren Panik. So bekommen sie eine leichte Ahnung davon, wie sich echte Seenot anfühlt. Im Ernstfall müssten die Verunglückten freilich zudem noch mit Kälte und Wind umgehen sowie im Innern der "Überlebensinsel", wie Fremgen sie nennt, mit Platznot, schlechter Luft, Gestank, Übelkeit, Unterkühlung, eventuell Verletzten und Streitereien. "Die Teilnehmer sollen die nötigen Handgriffe lernen, üben und in einer Notsituation abrufen können", fasst Fremgen seine pädagogischen Ziele zusammen. Normalerweise trainiert er im Freibad. Aber wenn die Wassertemperatur unter 15 Grad Celsius sinkt, kanns gefährlich werden. "Die Leute sollen ja nicht frieren lernen, sondern retten", sagt Fremgen. "Frieren tun sie von allein." Deshalb findet der letzte Kursus in diesem Jahr im Hallenbad statt.
"Es war ein bisschen hektisch. Aber eigentlich gings", kommentiert Uwe Clausen im Nachhinein das Entern der Rettungsinsel. Vom Beckenrand sah das anders aus. Auch anschließend sitzen manche der Teilnehmer noch schwer pustend auf der Bank und versuchen für die nächste Übung ihren Puls wieder runterzubringen. Clausen, ein 40-jähriger Werkstoffprüfer, und seine neun Kollegen sind von ihrem Arbeitgeber, der Cuxhaven Steel Construction GmbH (CSC) zum Sicherheitslehrgang geschickt worden. Der international besetzte Trupp aus Deutschen, einem Portugiesen und einem Waliser ist zwischen Mitte 20 und Mitte 50. Man trägt Bauch, wirkt nicht sonderlich fit.
Im Alltag bauen die Männer die Stützkreuze, die auf dem Firmengelände im Cuxhavener Hafen gelb leuchten. Die haushohen 490 Tonnen schweren Dreifüßer stehen später über der Wasseroberfläche auf Röhren, die rund 40 Meter in den Meeresgrund gerammt werden. Auf die Stützkreuze wiederum kommen einmal die Türme mit den Rotoren: 90 Meter ragen sie in den Himmel.
Die CSC-Leute arbeiten für "BARD Offshore 1", Deutschlands ersten kommerziellen Windpark außerhalb der Zwölf-Meilen-Zone, 90 Kilometer nordwestlich von Borkum. Die Anlagenbauer wollen bis Ende 2010 auf einer Fläche von knapp 60 Quadratkilometer 80 Fünf-Megawatt-Windräder in die 40 Meter tiefe Nordsee pflanzen. Nach der Inbetriebnahme sollen 400 Megawatt über Seekabel ins hiesige Stromnetz gespeist werden.
Die Männer, die im Altenwalder Hallenbad das Überleben üben, haben mit dem Aufbau der Windanlagen nichts zu tun. Für sie könnte der Ernstfall später eintreten, wenn sie für Inspektionen des Stahls, der Schweißnähte oder des Korrisionsschutzes immer wieder in den Windpark geflogen werden.
Für den Fall, dass der Helikopter verunglückt, paukt Rolf Fremgen mit seinen Schülern zum Schluss den Ausstieg aus einer Hubschrauberkanzel - und wird dabei seiner Berufsbezeichnung Unterwassertrainer gerecht. "Ditching, ditching, ditching!", ruft er. Nach diesem Kommando fürs Notwassern dreht der Ausbilder mit einem Helfer ein Metallgestell um 180 Grad, auf dem die Teilnehmer einzeln sitzen müssen. Unter Wasser, über Kopf und angeschnallt sollen die Havarierten nun den Weg ins Freie finden. Rolf Fremgen kontrolliert mit klaren Blick durch eine Taucherbrille die besprochenen Handgriffe, erklärt anschließend alles noch einmal und wiederholt die Übung, bis alles sitzt.
Der erste hats am schwersten. Er muss sechs Mal rotieren, schluckt reichlich Wasser. Die anderen lernen durchs Zuschauen und dürfen schneller wieder aus dem Becken steigen. Alle keuchen, husten und wirken nach den gut vier Stunden erschöpft. Als sich einer der Arbeiter nach der Befreiungsaktion endlich aus seinem schweren, klebrigen Anzug schälen darf, in dem längst das Wasser steht, sagt er zu einem Kollegen: "Eines hab ich heute gelernt: Mehr Sport machen." Lachend ergänzt der Angesprochene: ".Und weniger rauchen." Anschließend verschwinden beide unter der Dusche.
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