: Überlagerte Schuld
Das Abaton zeigt Joachim Kunerts DEFA-Film „Das zweite Gleis“, ein Nachkriegsdrama von 1962
von Tim Gallwitz
Auf dem Güterbahnhof überrascht der zuverlässige Fahrdienstleiter Brock zwei Diebe, die einen Waggon ausräumen. Obgleich er der Polizei versichert, einen der flüchtigen Täter wiedererkennen zu können, behauptet Brock später bei der Gegenüberstellung steif und fest, sich geirrt zu haben. Kurz darauf bittet er um seine Versetzung, angeblich wegen seiner Tochter. Der Dieb Runge scheint Brock zu kennen, kann sich aber zunächst nicht erinnern. Verunsichert darüber, dass Brock ihn laufen ließ, setzt er seinen jungen Mittäter Frank auf dessen Tochter Vera (Annekathrin Bürger) an. Frank und Vera kommen sich näher und finden heraus, dass Brock seinen Namen und Lebenslauf geändert hat. Von der Ex-Frau Runges erfahren sie schließlich, dass Runge einen KZ-Häftling tötete, den Brocks Frau versteckt hatte. Aus Scham über die Schwäche, seiner Frau nicht beigestanden zu haben, die deswegen von der Gestapo verhaftet und ermordet wurde, schwieg Brock und nahm eine neue Identität an.
Die zunächst konstruiert wirkende Geschichte von Regisseur Joachim Kunert (Die Abenteuer des Werner Holt) und Schriftsteller Günter Kunert (die nicht verwandt sind) bekommt einen Schub, als sie sich von der Kriminalistik abwendet und die Vergangenheit der Protagonisten ins Zentrum rückt. Diese erst nur untergründig schwelende Vergangenheit entwickelt in der Suchbewegung der Jüngeren eine nun ganz vordergründige Latenz – insbesondere dann, wenn das beharrliche Schweigen sowohl Brocks als auch Runges gegenüber der jüngeren Generation immer beredter wird. Mehr und mehr wird die Identitätssuche Veras mit dem Verheimlichungsdiktat ihres Vaters konfrontiert. Das immer angestrengtere Verbergen und Vertuschen macht den beklemmenden Charakter verdrängter Schuld und von Schuldgefühlen deutlich. Die expressionistisch anmutende Schwarz-Weiß-Fotografie des Films verstärkt in ihrer Strenge und der fast abstrahierenden Darstellung von Gleisanlagen und Straßenzügen das Gefühl des Eingeschlossenseins der Älteren in ihrer Erinnerungs-Einbahnstraße.
Hat Ralph Giordano die Verdrängung der nationalsozialistischen Verbrechen als „Zweite Schuld“ bezeichnet, spitzt Das zweite Gleis diesen Zusammenhang noch zu. Hier führt das Verschweigen der ersten Schuld geradlinig in eine zweite: Wird der Mantel des Vergessens gelüftet, muss ein erneutes Verbrechen für fortdauerndes Schweigen sorgen. Doch es wäre natürlich kein DEFA-Film vom Anfang der 60er-Jahre, wenn nicht ein reuiges Subjekt der objektiven Wahrheit am Ende zum Sieg verhelfen würde.
Das zweite Gleis ist einer der wenigen DEFA-Filme über die Täter und Zuschauer, die in der „antifaschistischen“ DDR ein mehr oder minder respektiertes Leben führen konnten. Das war den ostdeutschen Kommentatoren aus dem Jahr 1962 bereits zu weit weg oder zu weit gehend, man meinte es hier mit einer überholten historischen Phase zu tun zu haben. Die Berliner Zeitung etwa fragte sich, „ob der Film, so wie er angelegt ist, noch den Erscheinungsformen unserer Republik gerecht wird. In den Details der Handlung reflektiert der Film eher den Entwicklungsstand des gesellschaftlichen Lebens der DDR vor einigen Jahren, als die heutigen gefestigten sozialistischen Verhältnisse.“ Hüben war man also gefestigt, na denn Schwamm drüber, Das zweite Gleis alsbald auf dem Filmfriedhof beerdigt und schwupp zum Klassenfeind drüben geschaut, dem man umso lieber die Filbinger-Zombies aus dem Keller der Vergangenheit hervorholte...
Di, 21.2., 17 Uhr, Abaton