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■ Über die Schwierigkeiten des ZusammenwachsensNach der Einheit die Spaltung?

Dem Historiker fallen immer Präzendenzfälle ein; das ist wohl auch seine Rolle, wenn es um Politikberatung geht. Natürlich sind Präzedenzfälle keine Parallelen und keine Prophetien. Es sind aber Erfahrungen, die genutzt werden können.

Zwei Jahre nach der Vereinigung Deutschlands von 1871 brach eine Wirtschaftskrise aus, die 13 Jahre anhielt. Im selben Jahr 1873 brach der sogenannte Kulturkampf aus, dem andere Konflikte folgten, es organisierte sich der Antisemitismus, und es wurde endlich die zweite Reichsbehörde gebildet, nach dem Reichskanzleramt das Reichseisenbahnamt. Was kann man aus diesen Präzedenzfällen schließen?

Erstens: Daß es eine Legende ist, die damalige Vereinigung habe rasch und problemlos zu Prosperität und Integration geführt. Obwohl das neue Reich keine Milliarden ausgab, sondern im Gegenteil welche einnahm, nämlich die Kriegskontribution von Frankreich, geriet es zunächst in eine lange ökonomische Rezession, die übrigens viele Länder Europas erfaßte.

Zweitens: Die innere Integration, das Zusammenwachsen, war besonders schwierig. Die Preußen dominierten, viele Süddeutsche lamentierten, die Liberalen waren demoralisiert, die Katholiken fühlten sich majorisiert. Das kann man fast unmittelbar auf unsere Lage übertragen: Die Westdeutschen dominieren, die Ostdeutschen lamentieren, viele sind demoralisiert, einige fühlen sich majorisiert.

Drittens: Der Aufbau zentraler Institutionen, die rechtliche Integration, dauerte lange. Das Reichsgericht entstand erst 1877, das Bürgerliche Gesetzbuch trat erst 1900 in Kraft. In dieser Hinsicht ist die Vereinigung von 1990 sogar einfacher: Die Ordnung der westlichen Bundesrepublik wurde einfach auf das Beitrittsgebiet übertragen, was nun freilich der inneren Integration nicht förderlich ist.

Präzendenzfälle kann man auch außerhalb Deutschlands suchen. Die Geschichte kennt keine problemlosen Integrationen. Man kann auch an die europäische Integration denken, um die Schwierigkeiten derartiger Vorgänge zu erkennen.

Nun zählt der Historiker Präzendenzfälle nicht auf, um Angst zu machen. Schon gar nicht behauptet er, es müsse oder werde wieder so kommen. Auch die Warnung, es könne wieder so kommen, ist nicht unmittelbar hilfreich. Der Nutzen der historischen Erinnerung kann nur sein, früher gemachte Fehler zu entdecken, um sie nicht wiederholen zu müssen. Welche Fehler wurden nach 1871 gemacht?

Ich behaupte erstens: Die Schwierigkeiten wurden unterschätzt. Auf den Jubel folgte rasch der Jammer. Die Krisen wären besser beherrschbar gewesen, wenn man sich auf sie eingestellt hätte. Das ist fast banal und doch wahr: Viele haben 1990 den Fehler wiederholt, die Schwierigkeiten zu unterschätzen.

Ich behaupte zweitens: In der damaligen Krise suchten viele nicht nach Ursachen, sondern nach Sündenböcken. Damals waren es die Juden, heute sind es die Zuwanderer. Das ist auch noch banal, aber schon spezifischer, und wenn es wahr ist, dann handeln wir in der Asylfrage abermals irrational und kurieren an Symptomen statt an den Ursachen.

Ich behaupte drittens: Vielen kam die Sündenbocksuche ganz gelegen, weil sie von den wahren Ursachen ablenkte und dem Publikum Erleichterung verschaffte. Ich werde den Verdacht nicht los, daß wir uns abermals so verhalten und eine gefährliche Scheindebatte führen.

Ich behaupte viertens: Die meisten Konflikte der Bismarck-Zeit richteten sich nicht gegen reale, sondern gegen eingebildete Gefahren. Wenn die herrschenden Klassen die Konflikte nicht geführt hätten, dann hätte der preußische Verfassungskonflikt zu etwas mehr Demokratie geführt, der Kulturkampf zu mehr Toleranz, und die SPD wäre am Staat beteiligt worden. Das alles trat später doch ein, ohne die Interessen der herrschenden Klassen wesentlich zu beschädigen. Daraus ergibt sich die Frage, ob auch wir gegen Entwicklungen kämpfen, die in Wahrheit nicht gefährlich, sondern unaufhaltsam und vielleicht sogar vorteilhaft sind.

Deutschland hat von der Zuwanderung immer profitiert

Ich nenne die Zuwanderung. Deutschland hat immer Zuwanderung erfahren (von der Völkerwanderung über die Hugenotten bis zu den sogenannten Gastarbeitern in den 1960er Jahren), und es hat — das ist der wichtigere Teil der Aussage — nach gewissen Anpassungsschwierigkeiten immer davon profitiert. Es ist nicht nur eine historische, sondern auch eine ökonomische Prognose, daß das wieder so sein wird — zumal wir angesichts unseres geringen Geburtenzuwachses und der zunehmenden Überalterung Zuwanderer brauchen.

Statt dessen praktizieren wir eine angsterfüllte Abwehr und erzeugen dadurch Psychosen, die zu Ausschreitungen führen. Was wir brauchen, ist eine vernünftige Abwägung der kurzfristigen Nachteile gegen die langfristigen Vorteile der Zuwanderung und eine entsprechend durchdachte Einwanderungspolitik.

Dazu kommt es aber nicht, weil die Parteien aus wahltaktischen Motiven die falschen Parolen der Rechtsparteien aufgreifen. Was wir brauchen, sind Politiker wie Adlai Stevenson, der 1952 sagte: „Let's talk sense to the American people“ — Laßt uns weder Panik noch Illusionen verbreiten, laßt uns vernünftig zum Volk reden.

Das ist meine These: Illusorische Verheißungen auf der einen Seite und Panikmache auf der anderen, beides wahltaktisch motiviert, haben das Zusammenwachsen unnötig erschwert. Nicht die Lösung der Probleme stand im Jahr der Vereinigung im Vordergrund, sondern die Bundestagswahl im Dezember. Die Politik erschöpfte sich darin, Wähler zu gewinnen. Das verschärfte die Schwierigkeiten und führte in die Krise.

Ich kehre am Schluß noch einmal zum Präzendenzfall von 1871 zurück. Die damalige Krise erwies sich als Anpassungskrise und wurde überwunden. Aber erst dann zeichnete sich die eigentlich verhängnisvolle Folge der Vereinigung ab. Als die Integration um 1890 einigermaßen abgeschlossen war, begann der Weg in den Wilhelminismus und Imperialismus, in die Großmachtpolitik und den Ersten Weltkrieg. Das Deutsche Reich war schon nach seiner Volkszahl zu stark, als daß es nicht versucht gewesen wäre, nach der Vorherrschaft zu streben, oder doch mindestens eine Herausforderung für das Gleichgewicht in Europa darstellte.

Das ist jedenfalls insofern ein Präzendenzfall, als das vereinigte Deutschland mit seinen 78 Millionen Einwohnern — und das sind mehr als 20 Milionen mehr, als die nächstgrößten Staaten in Mitteleuropa haben — wieder ein Übergewicht darstellt. Ich mache keine Prophezeihung, kaum eine Prognose, aber ich spreche eine Warnung aus: Vergessen wir nie und besonders nicht nach dem Jahre 2010, wenn unsere Integration abgeschlossen sein dürfte, daß es ein Risiko sein kann, daß wir der volkreichste Staat in Mitteleuropa sind. Eberhard Jäckel

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