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Archiv-Artikel

ÜBER ALTE WÜNSCHE UND NEUE ABSONDERLICHKEITEN Zu Tränen gerührt

Rote Glut in blonder Asche

VON HELMUT HÖGE

Vor einigen Tagen ging ich aus Langeweile in den Club der polnischen Versager. Dort wurde die 1966 von Jiri Menzel gedrehte, aber erst 1990 uraufgeführte Verfilmung von Bohumil Hrabals biografischem Roman „Lerchen am Faden“ – über seine Arbeitsbrigade in dem nordböhmischen Stahlwerk „Poldihütte“ – gezeigt. Sie rührte mich fast zu Tränen. Denn diese Zeit ist so gut wie vollständig verschwunden: Es ist alles zu Ende, was mit Sozialismus, Proletariat, Neuem Menschen und Klassenkampf zu tun hatte.

Im Buch und im Film „Lerchen am Faden“ geht es um eine Gruppe von Intellektuellen, die man zur Produktion verdonnert hat: Sie müssen Schrott sortieren. Als ihre Norm erhöht wird, streiken sie, woraufhin einer nach dem anderen von der Staatssicherheit abgeholt und anschließend ins Kohlebergwerk gesteckt wird. Neben der Schrottsortierbrigade arbeitet eine Gruppe wegen Republikflucht inhaftierter Frauen, die von einem jungen Soldaten bewacht wird. Der Soldat heiratet später eine Zigeunerin, während der Gewerkschaftsvorsitzende des Kladnoer Stahlwerks nach Feierabend ein nacktes Zigeunermädchen „sauber wäscht“ – und dabei Revolutionslieder singt. Seine Schrottsortierbrigade ist ihm ein Gräuel, einmal sagt er zu ihnen: „Was soll bloß der Autor von ‚Rote Glut über Kladno‘ von euch denken?“

Fabrikbiografien

Dabei handelt es sich um einen 1955 auch in der DDR veröffentlichten „Erinnerungsroman“ von Antonin Zapotocky, angelehnt an den von der Defa verfilmten Roman „Die Fahne von Kriwoi Rog“ von Otto Gotsche, der wiederum auf den sowjetischen Roman „Rote Sterne über Kriwoi Rog“ von Alexej Gurejew zurückgeht. Dieser gehörte noch in das einst von Maxim Gorki initiierte sozialistische Genre „Fabrikbiografie“. 2009 tauchte er noch mal auf, als eine Gruppe von Ostdeutschen ein Buch über ihren jahrelangen Arbeitseinsatz auf der sozialistischen Großbaustelle in Kriwoi Rog veröffentlichte, wo sie ein neues Stahlwerk errichten sollte.

Diese Erzaufbereitungsanlage wurde nie fertiggestellt. Die DDR-Ingenieure fuhren nach der Wende nach Hause und wurden Frührentner. Die rumänischen Ingenieure harren bis heute untätig in Kriwoi Rog aus; sie hoffen, dass die Preise für Stahl irgendwann wieder so hoch sind, dass sich der Weiterbau der Anlage lohnt.

Als der Film zu Ende war, verließ ich den Club der polnischen Versager in Richtung Rosa-Luxemburg-Platz, um mich auf dem Weg nach Hause zügig im Baiz und im Prassnick zu betrinken, aber es schmeckte mir nicht. Zuletzt versuchte ich es noch im Florian am Heinrichplatz. Neben mir saßen zwei Pärchen und diskutierten. Ich starrte vor mich hin und erfreute mich an meinem Unglück: dass ich das Verschwinden von allem, was „uns“ einmal wichtig war, noch miterleben musste.

Nachtgespräche

Plötzlich sprach mich eine der zwei jungen Blondinen vom Nebentisch an: „Ist das deine Ledertasche? Bist du Lehrer oder Rentner? Entschuldige meine Neugier, ich wollte dich nicht beleidigen.“ Ich klärte sie über mein prekäres, aber noch aktives Arbeitsleben auf und sie mich daraufhin über ihres, nachdem sie sich mit dem Stuhl zu mir umgedreht hatte. Sie hatte Informatik studiert und studierte nun Wirtschaftsinformatik, um einen Job an der „Schnittstelle“ von EDV und Management zu finden.

Inzwischen hatte sich auch ihre blonde Freundin mir zugewandt. Einer der zwei jungen Männer an ihrem Tisch stand daraufhin auf und fragte mich: „Was hast du bloß, dass die Frauen sich einfach von uns weg- und dir zuwenden?“ Er sagte das nicht aggressiv, sondern eher ironisch lächelnd. Die Wirtschaftsinformatikerin brach dennoch das Gespräch mit mir ab und wandte sich wieder den beiden Jungs zu. Dafür redete ihre blonde Freundin mit mir.

Sie hatte Germanistik studiert und kürzlich in einem niederrheinischen Lyriksammelband einige Gedichte veröffentlicht. Nun wollte sie von mir wissen, ob sie trotz ihrer Neigung zur Poesie in den Journalismus einsteigen solle. Ich wusste nicht gleich eine Antwort. Sie stellte mir eine andere Frage: Ob ich Lust hätte, ein paar Gedichte von ihr zu lesen. Als ich nickte, holte sie ein Notizbuch aus der Tasche und bat mich, ihr meine E-Mail-Adresse und Postanschrift aufzuschreiben. Dann wendete sie sich wieder ihren Freunden zu.

Rendezvous

Ich verabschiedete mich von den vieren und ging nach Hause – nun nicht mehr so erschüttert über das Ende der Nachkriegszeit, das mit meiner Lebensdauer fast identisch war. Dafür war ich voll Mitleid mit diesen ganzen mittlerweile in die Zigmillionen gehenden jungen Blondinen, die Tag und Nacht und selbst bei ihren Rendezvous nie ihr eigenes kleines, beschissenes Weiterkommen vergessen.

Zu Hause kuckte ich noch ins Internet: Die „Poldihütte“ gehörte inzwischen wieder, wie schon während der Nazizeit, den Deutschen, konkret: der Scholz AG – „einer der führenden europäischen Stahl- und Metallschrottentsorger“ laut Wikipedia.