US-Soziologin über Occupy-Bewegung: "Niemand will Arbeiterklasse sein"
Die neue Protestbewegung ist ein Mittelschichtphänomen. Noch. Die US-Soziologin Frances Fox Piven über echte Armut, alte und neue Feindbilder und innovative Strategien des Protests.
taz: Frau Fox Piven, Sie schreiben schon lange, dass die USA politisches Engagement und eine Mobilisierung der Armen brauchen. Ist das der Moment, auf den Sie gewartet haben?
Frances Fox Piven: Es ist auf jeden Fall der Moment des Protests von sehr großen Teilen der Bevölkerung. Aber es ist noch unklar, ob die 50 Millionen Armen in den USA mitmachen werden. Bislang sind sie zwar einbezogen, aber spielen keine herausragende Rolle.
Wovon hängt das ab?
Der Widerstand gegen Zwangsvollstreckungen könnte die Aufmerksamkeit auf jene lenken, denen es am schlechtesten geht. Ich hoffe, dies gelingt. Andernfalls besteht die Gefahr, dass die Proteste die Sprache vergangener Jahrzehnte wiederholen. Die Mittelschicht stand im Zentrum, und die Armen wurden weiter marginalisiert.
Warum ist die Mittelschicht und ihr "amerikanischer Traum" so zentral?
Wir sind eine sehr verbraucherorientierte Gesellschaft. Die Zugehörigkeit zur Mittelschicht geht einher mit einem hohen Konsumniveau. Die Leute imitieren die Wohlhabenden in ihrem Konsumentenverhalten. Das ist in den USA möglich, weil massenproduzierte Güter relativ billig sein können. Die USA sehen sich gern als eine sehr mobile Gesellschaft.
FRANCES FOX PIVEN, 79, lehrt Soziologie an der City University in New York. Ihr Forschungsschwerpunkt sind soziale und Jugendbewegungen, Armut und Sozialpolitik in den USA. Die US-Amerikanerin ist Mitglied der Democratic Socialists of America. 1966 hat Fox Piven zusammen mit ihrem inzwischen verstorbenen Ehemann in einem viel beachteten Aufsatz die Abschaffung der Armut mithilfe eines Mindesteinkommens für Arme vorgeschlagen.
Für radikale Rechte ist diese "Piven-Cloward-Strategie" fast ein halbes Jahrhundert später immer noch ein rotes Tuch. Im vergangenen Winter hetzte der TV-Journalist Glenn Beck gegen die Verfassungsfeindin" und "Kommunistin", worauf Fox Piven anonyme Morddrohungen bekam.
Ist diese Mobilität nicht real?
Es gehört zum kulturellen amerikanischen Mythos, dass Leute als Hausierer beginnen und als Eigentümer von Handelsketten enden. Tatsächlich gibt es bei uns heute keine größere vertikale Mobilität als in den wohlhabenden europäischen Gesellschaften. Und auch in der Vergangenheit sind in den USA nur wenige tatsächlich die Leiter nach oben gestiegen.
Die Occupy-Bewegung spricht von sich selbst als den "99 %". Das signalisiert Offenheit nach fast allen Seiten. Birgt es auch die Gefahr der Verwässerung?
Es gibt ein gewisses Risiko, und der Slogan ist auch nicht ganz akkurat. Denn tatsächlich ist es den "Top 10 Prozent" sehr gut ergangen. Aber mich beunruhigt mehr, dass die Unbekümmertheit und sprachliche Aufgeschlossenheit von jenen ablenken könnte, die am stärksten leiden. Andererseits ermöglicht der Slogan, die Hand nach allen möglichen Unterstützern auszustrecken. Nach Leuten, die nur ein mittleres Einkommen haben oder weniger und die sich selbst mit den 99 Prozent identifizieren können. In den USA will niemand Arbeiterklasse sein.
Schließt der Slogan "Wir sind die 99 %" auch die Mitglieder der rechten Tea Party ein?
Auf der Liberty Plaza (Zuccotti Park) in New York sind mehrfach Tea-Party-Leute aufgekreuzt. Aber ihnen geht es definitiv besser als den durchschnittlichen amerikanischen Familien.
Sie sehen keine Parallelen zwischen Tea Party und Occupy-Bewegung?
Die Bewegungen sind sehr unterschiedlich: demografisch, ökonomisch wie kulturell. Tea Party-Leute sind weiß, älter und in der Regel Eigentümer ihres Hauses. Die meisten wuchsen in einer Zeit auf, als die USA sich als weiße Nation verstanden und die US-Flagge über weiten Teilen der Welt flatterte. Diese Leute sind ängstlich. Aber ihre Ängste sind nicht wirtschaftlicher Natur.
Die Protagonisten der Occupy-Bewegung sind zur Zeit des Mauerfalls und des Zusammenbruchs der Sowjetunion zur Welt gekommen. Ergibt das Verschwinden des alten Feindbildes neue Freiheiten in den USA?
Jetzt haben wir dafür Terroristen, die unter jedem U-Bahn-Sitz lauern. Nach 9/11 haben die Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen in den USA enorm zugenommen. Sie werden jetzt dafür eingesetzt, Proteste zu überwachen.
Die Occupy-Bewegung reagiert auf ökonomische und soziale Ungleichheiten, die seit Jahren existieren.
Die extreme Ungleichheit in den USA wächst seit mehr als 30 Jahren. Aber im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts hat sich diese Tendenz beschleunigt. Die Armut hat stärker zugenommen. Dann kam die Rezession dazu, die in Wirklichkeit mit einer finanziellen Panik begann. Als Erstes hat Wall Street ein großes Rettungspaket verlangt - und bekommen. Als Zweites begann eine Austeritätspolitik sowie die Konzentration auf die Schulden. Dann stellten die Leute fest, dass die Steuern für Unternehmen und insbesondere für finanzielle Transaktionen in den vergangenen 40 Jahren kontinuierlich gesunken sind.
Wieso ist die Protestbewegung gerade in diesem Herbst entstanden?
Schwer zu sagen. Aber für mich wäre es noch überraschender gewesen, wenn nichts passiert wäre. Alle Zeichen stehen auf Sturm: Auf der einen Seite wächst das wirtschaftliche Elend. Eine unglaubliche Anzahl von Häusern stehen "under water" [haben einen geringeren Marktwert als die Hypotheken, die auf ihnen lasten, d. Red.]. Die mittleren Löhne sinken. Und die Arbeitslosigkeit rangiert in zweistelliger Größenordnung. Andererseits haben die Banken ihre Verluste vom Anfang der Finanzkrise nicht nur ausgeglichen, sondern sie machen jede Menge Profit. Das ist Elend, kombiniert mit der Ungerechtigkeit bei der Verteilung des Elends. Es kommt hinzu, dass die Leute auf eine bestimmte Gruppe weisen können, die verantwortlich ist und sowohl die Wirtschaft als auch das politische System bestimmt.
Welche Rolle spielt die Präsidentschaft von Barack Obama bei der Genese der Proteste?
Wenn überhaupt, dann hat Obamas Präsidentschaft das Ausbrechen der Proteste verzögert. Die Leute haben sehr viel von ihm erwartet. Doch er erwies sich als ein Politiker, der sehr schnell dem Druck nachgegeben hat. Und der teilweise diesen Druck sogar selbst erzeugt hat, indem er sich mit Republikanern und mit Clintonites umgab, deren Orientierung nichts mit den Versprechen seiner Kampagne zu tun hat. Obama war eine Enttäuschung. Insbesondere für junge Leute. Und für Minderheiten.
Wie stark haben die Proteste von Ägypten bis Spanien die Occupy-Bewegung in den USA beeinflusst?
Protestbewegungen in verschiedenen Nationen haben sich immer gegenseitig beeinflusst. Schauen Sie sich 1968 an: Das gab es weltweit. Aber ich denke, es hätte in den USA auch ohne Tunesien und ohne Ägypten Proteste gegeben. Was Tunesien und Ägypten hingegen beeinflusst haben, ist die Strategie der Proteste. Platzbesetzungen sind eine gute Neuerung bei Protesten. Es ist einfach für die Obrigkeit, eine Demonstration oder eine Kundgebung auszusitzen. Aber es ist schwer, eine Besetzung auszusitzen.
Würden Sie diese Bewegung revolutionär nennen, wie manche Besetzer behaupten?
Sie wollen nicht zu den Waffen greifen oder Barrikaden bauen, sondern die Gesellschaft total umgestalten. Viele Protestbewegungen denken an eine Umgestaltung und bekommen Reformen. Wie umfassend die Umgestaltung wird, hängt davon ab, wie die amerikanischen Eliten auf diese Bewegung antworten. Und das ist extrem schwer vorherzusagen. Die amerikanische Oberschicht ist so individualistisch geworden, so unzusammenhängend und zersplittert. Es scheint, als würde sie nicht einmal mehr dafür sorgen wollen, die Institutionen zu reproduzieren, die sie zu der Führungsschicht gemacht haben. Es ist unglaublich, dass man Schulen und Lehrer mit enormen Haushaltskürzungen attackiert. Eine Führungsschicht, die auf ein langes Leben für sich, ihre Kinder und Enkel in diesem Land hofft, würde nicht so kurzsichtig und räuberisch sein.
Wie ordnen Sie die Bewegung ideologisch ein?
Als radikale Demokraten und Postanarchisten. Sie praktizieren direkte Demokratie. Das ist langwierig und mühsam. Aber sie tun es. Daraus kann ganz gewiss nur Gutes entstehen. Ich schätze das sehr. Auch wenn ich selbst nicht diesen Weg wählen würde, weil ich ihn schwierig und frustrierend finde.
Wird der Winter die Besetzungen beenden?
Die Bewegung muss ihre Taktiken ändern.
Wie lange kann sie durchhalten?
Die Bürgerrechtsbewegung hat 14 bis 15 Jahre gedauert. Die Arbeiterbewegung, die sich 1933/ 34 explosionsartig ausbreitete, hat ebenfalls rund ein Dutzend Jahre angehalten. Bewegungen haben eine Lebenszeit. Zum Teil, weil Leute etwas von dem bekommen, was sie verlangen, und zum Teil, weil die Energie, die eine Bewegung erfüllt, schrumpft. Wenn wir diese Bewegung zehn oder zwölf Jahre hätten, wäre das ein Segen.
Im November 2012 wählen die USA einen neuen Präsidenten. Welchen Einfluss werden die "99 %" haben?
Wahlen sind Propagandaschlachten. Sie hängen von Kampagnen-Beiträgen ab. Und von allen möglichen Scharaden. Aber diese Bewegung hat schon jetzt die Debatte verschoben. Das Hauptthema ist jetzt die wirtschaftliche Ungleichheit. Das ist eine echte Leistung.
Ist die Occupy-Bewegung eine Unterstützung oder eine Bedrohung für Barack Obama?
Beides. Obama muss sich nach links bewegen. Um seine Kernwählerschaft zu halten. Und das wird wiederum viel Skepsis gegen ihn auslösen. Die Bilanz ist vermutlich eher positiv für ihn. Aber es ist heikel. Und ich bin sicher, er wäre froh, würde das alles aufhören.
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