UNTER SPATZEN : Geordnete Strukturen
Bei den Kollegen, den Spatzen, hatte der Kanarienvogel studiert, wie man komfortabel an Nahrung kommt: Man lädt sich einfach zum Mitessen ein. Also hatte er sich mit einer Schar Spatzen vor N.s Sitzbank aufgestellt. N. verspeist dort im Sommer vor ihrem Laden immer ihr Pausenbrot. Wie üblich waren die Spatzen pünktlich gewesen, Tschilp, Tschilp. Sie wussten, hier würden Krümel für sie abfallen.
Der fremde Vogel gefiel N. sofort. Hübsch sah er aus, einen orangefarbenen Kanarienvogel hatte N. außerdem noch nie gesehen. Längst war N. der Käfig eingefallen, den sie ausgerechnet an jenem Morgen mit in den Laden genommen hatte. Sie hatte ihn abends an einen Bekannten verschenken wollen. Jahrelang stand das Ding leer und nutzlos im Keller herum. Jedes Mal, wenn N. den Käfig sah, war sie überzeugt gewesen, sie würde bald wieder einen Vogel halten. Und nun dieser Zufall.
Libretto, so taufte sie den Vogel später, zögerte nicht. Sicher war, was er sah, Heimat. Nachdem sie den Käfig auf das Straßenpflaster gestellt hatte, zog Libretto umstandslos ein. Er nahm auf der obersten Stange Platz und schaute neugierig durchs Gitter nach draußen. Seit jenem Tag pendelt Libretto zwischen dem Laden und N.s Wohnung. Er liebt es, ausgiebig zu baden und erledigt dies in seiner großen Auflaufform. Sorgsam zupft er sein Kleid zurecht und glänzt dann eine Weile. N.s Wohnung ist auch sein Flugplatz. Er trainiert dort steile Landemanöver.
Bei der Arbeit hingegen singt Libretto, gerne vor großem Publikum, und weil seine Konzerte gut ankommen, hat er inzwischen eigene Fans. Kunden, die den Vogel wiedererkannten, erzählten N., er sei eine ganze Weile im Kiez auf Trebe gewesen. Wochenlang habe er wild in den Bäumen gewohnt. Aber Libretto bevorzugt deutlich geordnete Verhältnisse und übrigens hat er seit Kurzem eine Braut. GUNDA SCHWANTJE