Twitter und die Journalisten: Crossmediales Chaos
Nach dem Amoklauf von Winnenden fanden der Miniblogdienst Twitter und die klassischen Medien zueinander. Allerdings ist diese neue Allianz nicht immer eine besonders glückliche.
Am Tag des Attentats von Winnenden gab es sie alle: die Twitter-User, die aus der Nähe des Geschehens Kurznachrichten in das Netzwerk stellten, genauso wie die, die den Miniblogdienst für wilde Spekulationen gebrauchten. Und auch die klassischen Medien, die vermehrt Twitter nutzten. Einige JournalistInnen berichteten auf diesem Weg direkt von ihrer Arbeit. Twitter ist selbst ein Medium - eines, das auch in Deutschland immer größere Relevanz erlangt. Und die Grenzen zwischen klassischen Medien und dem Web 2.0 werden immer schwammiger.
Der Deutsche Journalisten-Verband rügte nun die neue Twitter-Liebe seiner KollegInnen. "Eine Berichterstattung, die den Journalisten in den Vordergrund rückt und gezielt die Sensationslust eines Teils der Nutzer bedient, ist pietätlos gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen", sagte der Bundesvorsitzende Michael Konken. Damit meinte er JournalistInnen, die via Twitter über ihre Arbeitsweise und Erlebnisse am Rande des eigentlichen Geschehens informierten.
Wie das Magazin Focus es tat. Auf seinem Twitter-Account, dem die Redaktion erst den Namen "amoklauf" gab, es später dann in "FOCUSlive" umbenannte, heißt es: "Mehrere Einsatzwagen schießen an FOCUS-Online-Reportern vorbei. #Amokläufer in #Wendlingen getötet. Drehen ab nach Wendlingen!"
Die Twitter-User verfolgten live die Arbeit des Reporters. Es ging zeitweise nicht mehr um den Amoklauf, es ging um den Reporter. Eine solche Berichterstattung gehe über die Informationspflicht weit hinaus, rügte der DJV-Vorsitzende Konken. Sie berge die Gefahr, die Glaubwürdigkeit der Medien nachhaltig zu beschädigen. "Ich kann verstehen, dass manche Tweets in Anbetracht der Nachrichtenlage als unangemessen empfunden wurden", sagte Focus-Online-Chefredakteur Jochen Wegner der taz. Die Glaubwürdigkeit sieht er nicht gefährdet: "Mein Gefühl ist, dass unsere Glaubwürdigkeit als Onlineredaktion langfristig leidet, wenn wir uns Twitter nicht öffnen."
JournalistInnen nutzten Twitter an diesem Tag aber noch zu einem anderen Zweck: als Quelle. Oder als Hinweisgeber, wie der Focus auf seinem Twitter-Profil betont.
Der Nachrichtensender N-TV verbreitete die Informationen aus dem Netz in seinem Programm. Ein Reporter wurde live geschaltet und zitierte aus dem Internet. "Für uns ist eine Bewertung der Verlässlichkeit der Twitter-Botschaften ganz wichtig", sagt N-TV-Sprecher Christoph Hammerschmidt. Die Überprüfung und Einordnung wurden beim Nachrichtensender in diesem Fall von einem Internetreporter vorgenommen. Ein Zukunftsmodell, wie Hammerschmidt glaubt. So könne man Twitter verantwortungsvoll nutzen.
Die eigentlichen Twitter-User, die sich nicht zu den JournalistInnen zählen, waren nicht so nah dran am Geschehen. Lediglich die Twitter-Userin "tontaube" zwitscherte aus der mittelbaren Nähe der Schule. Eigentlich nur, um ihre Freunde zu warnen, schrieb sie: "Besser nicht in die Stadt kommen!!!!" und zog damit das Interesse der Medien auf sich, die bei Twitter recherchierten. Binnen kurzer Zeit liefen Interviewanfragen bei ihr ein, unter anderem von Bild, N-TV und den Stuttgarter Nachrichten. Plötzlich war "tontaube" eine Person des öffentlichen Interesses.
Andere User nutzten das Netz vor allem, um zu spekulieren. Kaum war der Name bekannt, kursierten Profile von sozialen Netzwerken, die dem Täter zugeschrieben wurden. Ein Nutzer meinte sogar, er habe auf Youtube ein Video gefunden, in dem der Täter das Attentat ankündigte. Alles Falschmeldungen, wie sich bei näherer Betrachtung herausstellte.
Sogar ein Foto eines Tim K. machte die Runde, die Community hatte ihren "Täter" gefunden - nur war es der falsche. Zwar hieß der Amokläufer Tim K., aber nicht alle Tim K.s sind Amokläufer. Nur zu gut, dass solche denunziereden Meldungen nicht Einzug in die Presse fanden. Das wäre einer Leichtfertigkeit geschuldet, die sich auch die Twitter-Community nicht leisten sollte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Aktienpaket-Vorschlag
Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenken