Tunesische Politikerin über Ennahda: "Wir sind selber schuld"
Der Wahlsieg der Ennahda ist eine Katastrophe, sagt die tunesische, säkulare Politikerin und Menschenrechtsaktivistin Bouchra Belhaj Hamida.
taz: Die islamische Partei Ennahda ist eindeutig Sieger der Wahl in Tunesien. Sind Sie überrascht?
Bouchra Belhaj Hamida: Ja. Ich wusste, dass sie stark werden, aber ich habe nicht an so eine große Mehrheit geglaubt.
Ist das eine Katastrophe?
Ja, für mich persönlich schon. Das wird auf jeden Fall eine große Herausforderung. Aber ich sage es immer wieder: Das Problem liegt nicht bei Ennahda, sondern bei uns, den fortschrittlichen Kräften.
Wie meinen Sie das?
Wir müssen überprüfen, wie wir arbeiten und agieren. Wir müssen unseren Diskurs überdenken. Wir müssen unsere Kommunikationsstrategien überprüfen. Ennahda war auf allen Ebenen hervorragend aufgestellt, selbst auf Facebook.
Die Juristin und Frauenaktivistin kämpfte gegen die Diktatur. Bei der Wahl trat sie im Bezirk Zaghouan bei Tunis als Spitzenkandidatin der Partei von Mustapha Ben Jaafar, des Demokratischen Forums für Arbeit und Freiheit, an.
Die Wahlen waren sehr gut vorbereitet und wurden beobachtet. Dennoch heißt es, dass es von Seiten Ennahdas Unregelmäßigkeiten gab. Das Stimmen gekauft wurden und die Leute in manchen Vierteln Angst hatten, gegen Ennahda zu stimmen. Sehen Sie das auch so?
Es gab sehr viele Unregelmäßigkeiten. Während der Wahlkampagne und am Wahltag selbst. Aber für mich ist auch hier nicht das Problem, dass Ennahda Unregelmäßigkeiten begangen hat, sondern die fehlende Koordination von unserer Seite. Es waren die ersten freien Wahlen. Wir können nicht perfekt sein. Aber wir waren nicht gut bei der Organisation, der Vorbereitung und der medialen Vermittlung.
Und stimmt es, dass Stimmen gekauft wurden und es zu Übergriffen in den Wahlbüros kam?
Das ist Realität. Es gab sehr viel Übergriffe.
Ennahda braucht aller Wahrscheinlichkeit nach Koalitionspartner. Denkt Ihre Partei, das Demokratische Forum für Arbeit und Freiheit, über eine Koalition nach?
Es gab noch keine Parteientscheidung, aber ich bin dafür, mit allen gewählten Parteien zu koalieren, auch mit Ennahda. Ich möchte eine Debatte darüber, dass alle gewählten Parteien proportional Abgesandte in die verfassungsgebende Versammlung schicken und dass nicht nur die drei stärksten Parteien eine Verfassung erarbeiten.
Wie erklären Sie sich den Sieg der Ennahda, wo Tunesien doch stets stolz auf seine Modernität, seine Republik, seine Frauen war?
Sie haben sehr viel gearbeitet, und sie haben sehr militante Mitstreiter. Sie verfügen über viele Mittel und sie führen einen schlagend-einfachen Diskurs: Sie sind für die Rechte der Frauen, für mehr Moral, für Arbeit, gegen Diebstahl. Viele Phrasen, aber sehr eingängige.
Haben säkulare Tunesierinnen jetzt Angst?
Ja, viele fürchten die Islamisten. Sie glauben ihnen nicht, halten sie für doppelzüngig. Aber die Tunesier sind selber verantwortlich, viele haben ohne Überzeugung, ohne Idee gewählt. Aber der demokratische Prozess ist deshalb nicht verloren.
Wie geht es weiter?
Ich bin der festen Überzeugung, dass wir gerade eine Demokratie aufbauen. Trotz alledem. Es ist wunderbar, was sich bei uns entwickelt hat. Ich bin zufrieden, auch wenn ich in meinem Wahlbezirk nicht gewählt wurde. Aber alle Anstrengungen haben sich gelohnt. Es geht weiter. Wir sind im Prozess, wir müssen viel dazulernen. Aber wir sind und bleiben wachgerüttelt.
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