■ Tun und Lassen: Antirassistische Intervention
Die beiden Männer, blond und bäuerlich, haben einen gigantischen Einkauf getätigt, den der eine schon in zahllosen Plastiktüten verstaut, während der andere zahlt. Er drückt der Kassiererin ein paar gefaltete Scheine in die Hand.
„Aber das ist gar kein Hunderter!“ beschwert sich die Kassiererin, „das ist bloß ein Zwanziger!“
„Da muß man heutzutage“, räsonniert Mutti, die als nächste in der Supermarktschlange dran ist, „höllisch aufpassen. Gerade heutzutage ...“
Gegen 60, Typus Pfarrfrau, aber mit großgeblümtem Kleid und rot lackierten Finger- sowie Fußnägeln.
„Oh Verzeihung!“ ist unterdessen die Kassiererin gegenüber den beiden Polen fortgefahren, die eh' nicht verstehen, was das Problem ist. „Es ist ja ein Zweihunderter“, wendet sie sich deshalb reuig an die Kollegin von der nächsten Kasse. „Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Wahrscheinlich die Hitze, vorhin habe ich schon ...“
„Gerade heutzutage“, ist dagegen Mutti fortgefahren, die ihr Zeug aus dem Einkaufskorb auf das Band häuft, „muß man da mächtig aufpassen. Denn wenn man an die Richtigen gerät ...“
In uns ist schwere Wut aufgestiegen. Mutti jedenfalls hat nicht aufgepaßt. Sonst hätte sie bemerken müssen, daß die beiden Polen über jeden Verdacht erhaben sind; daß es die Kassiererin war, die in dem Mißtrauen gegen Nichtdeutschsprechende, das Mutti zu säen lüstern fortfährt, einen schweren Benimmfehler begangen hat, für den sich zu entschuldigen sie auch gleich bereit war, hätten die beiden Männer, jetzt schon wieder unterwegs nach Stettin, ihn überhaupt bemerkt.
In unserer Wut hätten wir Mutti, middle class, keine beschränkte Prolofrau, gern angeschnauzt.
Aber wir ließen es bleiben.
Denn mit halluzinatorischer Deutlichkeit trat uns vor Augen, wie alle Muttis in solchen Fällen verfahren.
Das möge in diesem Fall schon richtig sein, würde sie ebenso wütend erwidern, daß diese beiden Ausländer keine Betrugsabsichten hegten. Aber aus zahllosen Fällen wisse man doch im allgemeinen, welches Gesindel aufgrund der ostwärts und überhaupt weit geöffneten Grenzen hereinströme und auf jede denkbare Weise an unser gutes Geld zu kommen versuche. Da sei Wachsamkeit, grundsätzliche Wachsamkeit höchst angeraten. Unsere allgemeine Humanitätsduselei jedenfalls ...
So schwiegen wir, um unsere Mutti nicht zu provozieren, und verzichteten auf eine antirassistische Intervention.
Allerdings sandten wir ihr einen starren, durchdringend-strafenden Blick zu, der sie gründlich verwirrte. Wir erwarten die nächste Gelegenheit, um zu testen, ob dieser Blick die richtige Waffe für solche Fälle von Krieg ist.
Monika Rinck
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