Türkischer Verein gegen Frauenmorde: „Wir sind keine Zimmerpflanzen“
Die frauenfeindliche Politik der türkischen Regierung forciert patriarchale Gewalt gegen Frauen. Trotz oder gerade deshalb wächst die feministische Bewegung.
Notstandsdekrete, Entlassungen und Beschneidungen von Freiheiten erschweren insbesondere seit dem Putschversuch am 15. Juli 2016 Bürger*innen das Leben. Umso wichtiger wird die Arbeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich für Menschenrechte einsetzen. Der Verein Kadın Cinayetlerini Durduracağız Platformu (zu deutsch: Wir werden die Frauenmorde stoppen, kurz: KCDP), ist eine der größten Frauenorganisationen der Türkei und beschäftigt sich explizit mit dem Thema Frauenmorde.
Gegründet wurde der Verein im Jahr 2010 nach dem Bekanntwerden des Mordes an der 17-Jährigen Schülerin Münevver Karabulut. Der Fall ging wegen der besonders brutalen Details des Tathergangs durch die türkischen Medien und löste eine kontroverse Debatte aus. Der ebenfalls minderjährige Täter war der Freund der Schülerin und konnte sich Mithilfe seiner Familie sechs Monate verstecken, bevor er sich den Behörden stellte. In der Öffentlichkeit wurde einerseits die Rolle seiner wohlhabenden Familie diskutiert, andererseits der Familie des Opfers Vernachlässigung der Elternpflicht und dadurch eine Mitschuld an der Ermordung unterstellt.
Gülsüm Kav, Medizinerin und Generalvertreterin des KCDP-Vereins, im Gespräch über die Herausforderungen von feministischem Engagement in politisch angespannten Zeiten.
taz: Frau Kav, woher nehmen Frauen in einer von Notstandsdekreten bestimmten Zeit die Kraft, sich für ihre Rechte einzusetzen?
studiert Online-Journalismus an der TH Köln und setzt sich für Gleichberechtigung der Geschlechter ein. Sie ist in Antalya geboren und wohnt seit 2009 in Deutschland.
Gülsüm Kav: Wir haben gar keine andere Wahl. Die Gewissheit, dass nur wir einander helfen können, gibt uns die Kraft uns stets aufs Neue zu versammeln und unsere Rechte einzufordern.
Welche feministischen Themen stehen für Sie derzeit im Vordergrund?
Gewalt hat im Ausnahmezustand eine neue Dimension erreicht und ist noch barbarischer geworden. Es gab einen Fall, bei dem ein Mann eine Bombe in seine eigene Wohnung gelegt und auf diese Weise seine Frau ermordet hat. Das klingt doch einem IS-Anschlag erschreckend ähnlich.
Wie hat sich die Gewalt an Frauen seit dem Referendum entwickelt?
Vor jeder Wahl ist ein Rückgang an Gewalt zu verzeichnen. Doch sobald der Wahlsieg der AKP verkündet wird, die eine Frauenhass schürende konservative Politik betreibt, schießt schlagartig patriarchale Gewalt durch Männer wieder in die Höhe. Das sehen wir auch jetzt gerade. Als Feministinnen müssen wir gegen ein nie dagewesenes Regime kämpfen. Denn der Widerstand der Frauen ist nicht mehr getrennt vom Widerstand gegen die Regierung zu denken.
Den Begriff Frauenmorde hat ihr Verein maßgeblich etabliert. Wie wurden Morde dieser Art zuvor genannt?
Sie liefen unter dem Begriff Ehren- oder Sittenmord (da sie mit traditionellen Werten begründet wurden, Anm.d.Red.). Wir hatten damit gerechnet, dass diese Morde in den kommenden Jahren steigen würden, und wollten dem etwas entgegnen. Nun beobachten wir, dass mit dem Anstieg der Gewalt an Frauen auch die Forderung von Frauenrechten lauter und deutlicher wird.
Allerdings kostet das Einfordern ihrer Rechte vielen Frauen das Leben…
Ja, das hängt mit der Regierung zusammen. Zuvor hat sich keine Regierung so vehement gegen die Freiheit von Frauen verschlossen. Jede Frau hat mindestens mit einem Mann in ihrem sozialen Umfeld Auseinandersetzungen zu Entscheidungen, die ihr eigenes Leben betreffen, egal ob es dabei um Beruf, Scheidung oder Kleidung geht. Anders als die Männer haben sich Frauen nämlich stark weiterentwickelt, daher versuchen Männer mit aller Kraft den Widerstand zu verhindern. Das Problem zwischen den Geschlechtern hat auch deshalb Bestand, weil die Regierung nichts gegen die patriarchale Bevormundung einwendet, mehr noch diese forciert.
Sind Frauenmorde also die patriarchale Antwort auf den Feminismus?
Auf jeden Fall. Ohne Frage haben wir bei der Republiksgründung als Frauen viele Rechte bekommen. Allerdings hätte sich vor 20 Jahren keine Frau in irgendeiner anatolischen Provinz getraut die Scheidung einzureichen. Heute ist das anders. Obwohl uns täglich Nachrichten von Gewalt an Frauen erreichen, zieht keine Frau die Scheidung vor Gericht zurück.
Der Altersdurchschnitt in der feministischen Bewegung ist deutlich gesunken. Worauf führen Sie diese Entwicklung zurück?
Mit dem Fortschreiten der Urbanisierung und der Entwicklung der Technologie gelangt in jeden Haushalt ein Computer und das Internet, das beeinflusst die Entwicklung junger Menschen. Diese Veränderung vollzieht sich in allen gesellschaftlichen Schichten, selbst in der AKP-Wählerschaft.
Der Mord an Özgecan Aslan, die 2015 bei einer Busfahrt in der südostürkischen Stadt Mersin vom Fahrer beim Versuch sie zu vergewaltigen ermordet wurde, hat auch dazu geführt, dass sehr viele junge Menschen sich dem feministischen Widerstand angeschlossen haben. Die Anzeigen wegen Kindesmissbrauchs oder sexueller Belästigung am Arbeitsplatz sind nach diesem Vorfall immens gestiegen. Im vergangenen Jahr haben wir verkündet, dass wir unser Engagement in Bezug auf alle Frauenrechte ausweiten. So kämpfen wir heute auch gegen Kindesmissbrauch.
Welche Parallelen gibt es zwischen Gewalt an Frauen und Kindesmissbrauch?
Beide Vergehen haben mit demselben sexistischen Geschlechterverständnis zu tun. Der Missbrauch von 15-18 Jährigen etwa ist im Gegensatz zu Gewalt an jüngeren Kindern, nicht von dem Thema Frauengewalt zu trennen, dazu gehört nämlich auch vor allem die Zwangsverheiratung von Minderjährigen. Wir sehen, dass viele Fälle von Frauenmorden auf Zwangsverheiratungen zurückgehen. Das zeigt auch der unsägliche Gesetzesentwurf aus dem vergangenen Jahr, der die Verheiratung von Minderjährigen legalisieren sollte. Dieser wurde auf Protest in der Gesellschaft, vor allem durch Frauen, gestoppt.
Ist dieser Gesetzesentwurf also endgültig vom Tisch?
Nein, er wurde eingestellt, könnte aber jederzeit per Notstandsdekret wieder durchgedrückt werden.
Wie bewerten Sie die Gesetzesentwürfe der Opposition, die Frauenrechte betreffen?
In letzter Zeit häufen sich Frauenmorde auch in den sogenannten demokratischen oder linken Milieus. Diese proklamieren ja eigentlich, dass sie sich für die Freiheiten und Rechte der Frauen einsetzen. Es gibt aber natürlich keine gesellschaftliche Gruppe, die frei von patriarchalen Strukturen ist und in der Türkei wird die vorhandene Dynamik maßgeblich durch die AKP bestimmt. Diese hat die Toleranzgrenze für Gewalt und Freiheitsbeschneidungen derart nach unten versetzt, dass selbst das Patriarchat innerhalb der Opposition sich wohl fühlt.
Den Preis für Folter, Krieg, die Wirtschaftskrise und auch den Ausnahmezustand zahlen stets Frauen. Indem die AKP-Regierung Gewalt an Frauen ungestraft zulässt, spielt sie gewalttätigen Männern in die Hände. Es gibt zu wenige, die sich tatsächlich für die Rechte von Betroffenen einsetzen. Bei dem Rest handelt es sich um Besserwisser, die durch Mansplaining uns in unserer Expertise belehren wollen.
Wie bewerten Sie das geringfügige Vorankommen der Frauenbewegung innerhalb der Linken?
Das hängt stark damit zusammen, dass die türkische Linke in sich wenig demokratisch ist. Die undemokratische Weltsicht überträgt sich auch auf den Umgang mit Frauen. Allerdings glaube ich, dass unser Widerstand auch hier zu einigen Verbesserungen führen kann.
Viele Feministinnen beschweren sich über das Verhalten von Männern, die versuchen feministische Aktionen zu dominieren.
Früher haben Männer selbst bei Aktionen am 8. März darauf bestanden an jedem Transparenz mindestens einen Mann zu platzieren und dabei ihre Positionen wie ein Torwart verteidigt. Die Verbindung oder Nichtverbindung zwischen der feministischen und linken Bewegung geht auf diese Zeit zurück. Seit Gezi gibt es bei den Linken die Auffassung, dass sich mehr Jugendliche und Frauen an ihrer Politik beteiligen sollten. Aber wir sind keine Zimmerpflanzen, die sich wie Deko irgendwo platzieren lassen. Warum sollten wir uns ihnen anschließen, wenn wir kein echtes Mitspracherecht bekommen, wenn wir keine Grundlage für einen gemeinsamen Widerstand entwickeln können?
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