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Türkischer Journalist im ParlamentDer investigative Politiker

Ahmet Şık ist einer der prominentesten Journalisten der Türkei. Ihm drohen mehr als sieben Jahre Haft. Nun sitzt er für die HDP im Parlament. Ein Portrait.

„Wer gegen das System ist, lebt gefährlich.“ Foto: Mehmet Kacmaz/NarPhotos/laif

Ahmet Şık sitzt in einem Café am Şili-Platz, etwas oberhalb des Geländes des türkischen Parlaments in Ankara. Immer wieder wird er von Café­besuchern erkannt, und wir werden im Gespräch unterbrochen. Ein Mann kommt an den Tisch, er stellt sich als Professor vor, der per Notstandsdekret entlassen wurde. Der Professor lächelt und fragt Şık: „Und, was wollen Sie für uns tun?“

Şık reagiert mit einer Gegenfrage: „Wir werden etwas tun, nur was, ja, was meinen Sie denn, was wir unter so einem Regime tun können?“ Während Şık erzählt, wie begrenzt seine Möglichkeiten als Abgeordneter sind, raucht er eine Zigarette nach der anderen. Er holt tief Luft und stellt sich selbst auch immer wieder diese Frage: „Was sollen wir denn machen? Wie sollen wir ein Parlament ausfüllen, das sie ausgehöhlt haben?“

Ahmet Şık, einer der prominentesten Investigativjournalisten der Türkei und Symbolfigur für die Repressionen gegen Journalisten, ist in die Politik gegangen. Bei den Wahlen am 24. Juni wurde er als Abgeordneter von Istanbul für die kurdisch-linke HDP ins Parlament gewählt. Vor ihm liegt keine leichte Aufgabe: Er zieht in ein Parlament ein, das im Präsidialsystem alla turca seiner Funktion beraubt wurde.

Angesichts dessen fragen sich die Abgeordneten der Opposition besorgt, wie sie überhaupt noch wirksame Politik machen sollen. Auf Şık liegen nun die Hoffnungen derer, die nicht die AKP gewählt haben. „Auch im Parlament werde ich die Dinge beim Namen nennen“, sagt er mir und schiebt schnell hinterher, es sei ihm aber bewusst, dass im neuen System ein Abgeordneter im Parlament nicht viel mehr tun kann, als „Krach“ zu schlagen.

Unbequem, prinzipientreu

Şık hat in der Nähe des Parlaments in Ankara eine Wohnung angemietet. Seine Frau, seine Tochter, die Jura studiert, und sein Hund Pablo bleiben in Istanbul zurück. Seinen Arbeitsschwerpunkt sieht er trotzdem in den Armenvierteln seines Wahlbezirks in Istanbul, dort will er Anlaufstellen einrichten, in denen die Bürger ihre Probleme vorbringen können. „Wir müssen Politik auf der Straße machen, konkrete Lösungen entwickeln und dabei die Armen, die für die AKP gestimmt haben, miteinbeziehen“, sagt er. Wird das funktionieren? „Das ist schwierig, aber nicht unmöglich.“

Das Parlament nimmt zwar erst im Oktober wieder offiziell die Arbeit auf, Şık wühlt sich aber jetzt schon durch zahllose Formulare. Von überall her erreichen ihn Mails, Beschwerden, Informationen. „Ich notiere sie alle. Ich werde ins Parlament tragen, worüber die Journalisten nicht berichten können.“ Şık ist davon überzeugt, dass effektiver Widerstand gegen das Regime nur mit Medien möglich ist, die über die Fakten berichten. Deshalb will er als Abgeordneter Projekte unterstützen, die unabhängige Medien stärken. Als regierungskritischer Journalist hat er erfahren, welchen Preis es in der Türkei kostet, Fragen zu stellen.

Ahmet Şıks Geschichte ist eine sämtlicher Hindernisse, die dem unabhängigen Journalismus in der Türkei im Wege stehen. Schon in den ersten Jahren seiner Karriere erlebte er in seinem nächsten Umkreis, wie gefährlich es ist, in der Türkei Journalist zu sein: Sein enger Freund, der Evrensel-Journalist Metin Göktepe, wurde im Januar 1996 nach der Teilnahme an einer Beerdigung zweier in der Haft getöteter Gefangener von Polizisten so brutal zusammengeschlagen, dass er noch am selben Tag an seinen Verletzungen starb.

Şıks Kampf für die Pressefreiheit begann als Organisator von Protesten, bei denen er forderte, die Mörder seines Freundes zur Rechenschaft zu ziehen. Unter früheren Kollegen gilt Şık als unbequem, als einer, der es zu seinem Prinzip erhoben hat, sich Ungerechtigkeiten zu widersetzen. International bekannt wurde der Journalist durch sein Buch „Die Armee des Imam“ von 2010, in dem er schildert, wie sich die Gülen-Bewegung, damals noch enger Bündnispartner der AKP, in den staatlichen Strukturen organisiert.

Mutig und kompromisslos wie die Mutter

Das Buch wurde beschlagnahmt, noch bevor es ganz fertig war. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sagte über das unveröffentlichte Buch, es sei „gefährlicher als eine Bombe“. Sein Autor musste 2011 dafür ins Gefängnis. Ende 2013, kurz nachdem Şık aus der Untersuchungshaft entlassen worden war, kam es zum Bruch zwischen AKP und Gülen-Bewegung. Die Staatsanwälte, die Şık damals ins Gefängnis geworfen hatten, kamen nun selbst hinter Gitter.

Der Machtkampf zwischen der AKP und der Gülen-Bewegung kulminierte im Putschversuch am 15. Juli 2016. Fünf Tage später rief die türkische Regierung den Ausnahmezustand aus, der erst kürzlich aufgehoben wurde. In diesem Zeitraum verloren mehr als 150.000 Menschen ihren Job, rund 75.000 Menschen wurden festgenommen. Am 28. Dezember 2016 wurde auch Ahmet Şık aus seiner Wohnung heraus erneut festgenommen. Diesmal lautete der Vorwurf, mit Zeitungsmeldungen die Gülen-Bewegung unterstützt zu haben.

Während sich die Angeklagten im Cumhuriyet-Prozess im Gerichtssaal zurückhielten, um wegen guter Führung eine Strafminderung zu bekommen, bezeichnete Ah­met Şık den Staat in seiner Verteidigung als „Mafia“ und sagte, dass die Richter, die ihn verurteilten, eines Tages selbst zur Rechenschaft gezogen würden. Nach 15 Monaten in Untersuchungshaft kam er im März 2018 frei, der Prozess gegen ihn dauert an.

Seinen Mut und seine Kompromisslosigkeit habe Ahmet von seiner Mutter, sagt Bülent Şık über seinen Bruder. „Mein Vater ist kompromissbereit und nachgiebig. Aber meine Mutter legt sich in Konflikten mit ihren Gegnern an“, erzählt er am Telefon. Bülent Şık ist Akademiker, während des Ausnahmezustands wurde er per Notstandsdekret suspendiert. Er denkt, dass sein Onkel, der Anwalt Ahmet Albay, der am 17. April 1980 ermordet wurde, Ahmet Şık beeinflusst hat.

Journalismus war in diesem Klima nicht möglich

Ahmet Albay war einer der Nebenklage-Anwälte im Fall des Pogroms von Kahramanmaraş, bei dem mehr als 100 Angehörige der alevitischen Glaubensgemeinschaft umgebracht wurden. Am 17. April 1980, Albay hatte gerade sein Büro verlassen und stieg in sein Auto, wurde er von einer Kugel im Rücken getroffen. Er starb am 3. Mai, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit.

Der 3. Mai, sagt Ahmet Şık, sei für ihn deshalb ein Tag von doppelter Bedeutung. Er war damals zehn Jahre alt. Ein halbes Jahr nach dem Mord kam es zum Militärputsch, viele Menschen aus dem Umfeld der Familie Şık seien verhaftet worden, erzählt Bülent Şık. „Was wir in dieser Zeit erlebt haben, war ein Einschnitt für uns. Unsere Familie war immer politisch.“

Als Ahmet Şık im März freigelassen wurde, wollte er seine Arbeit wieder aufnehmen. Doch er habe sehr bald erkannt, dass er in dem repressiven Klima seinen Beruf de facto nicht länger ausüben konnte, sagt er mir. Er erzählt von seinen Quellen, die sich nicht mehr trauten, seine Anrufe entgegenzunehmen, geschweige denn, ihm Informationen zuzutragen. Während er noch überlegt habe, was er in der ausweglos scheinenden Lage tun könne, kam das Angebot von der HDP.

Er zögerte kurz, stimmte dann aber zu, bei den Wahlen für das Parlament zu kandidieren. Unterstützt von befreundeten Journalisten und seiner Frau Yonca Şık, stürzte er sich in den Wahlkampf, reiste durch das Land, trat im südosttürkischen Diyarbakır vor 100.000 Menschen auf und saß in Istanbul in den demokratischen Parkforen, die während der Gezi-Proteste entstanden waren. Am 24. Juni wurde er als Abgeordneter für die HDP ins Parlament gewählt.

Zu unserem Treffen in Ankara kam er aus Soma, wo am 13. Mai 2014 301 Grubenarbeiter umgekommen waren. Früher beobachtete er den Prozess zur Grubenkatastrophe als Journalist, nun als Abgeordneter. Jetzt schon verbringt Şık einen Großteil seiner Zeit auf Reisen im ganzen Land. Gleich nach unserem Treffen brechen wir zum Flughafen auf, er muss nach Antalya. Vor dem VIP-Salon des Flughafens sagt er, ein paar Mal sei er auf dem Motorrad seines Beraters hergekommen: „Wenn man nicht im Anzug und per Dienstwagen vorfährt, glauben die gar nicht, dass man Abgeordneter ist.“

Eklat im Parlament

Auch wenn Şık scherzt wie früher, weiß er genau, dass die Last auf seinen Schultern jetzt viel schwerer wiegt. Wie soll er einen Diskurs entwickeln, der die Wähler*innen von HDP und CHP zugleich anspricht und dabei dem Druck der Regierung standhält? Wie soll er den Kampf, den er bisher als unabhängiger Journalist führte, jetzt im Rahmen kollektiver Politik fortsetzen?

Auf dem Flughafen läuft uns Mutlu Öztürk über den Weg. Der Mitgründer der HDP denkt, dass es für Ahmet Şık nicht leicht werden wird im Parlament. „Jetzt braucht die HDP Mut, strategischen Verstand und Geduld. Dass Ahmet Şık über Mut verfügt, hat er im Laufe der Jahre immer wieder bewiesen. Der Name Ahmet Şık und das Wort Geduld gehen allerdings nur schwer zusammen“, sagt Öztürk. Ob die Entscheidung richtig war, meint Şık, müsse die Zeit erweisen. Fühlt er sich nun sicherer mit der Immunität durch den Abgeordnetenstatus? Er lächelt. „In der Türkei gibt es keine Rechtssicherheit, und niemand kann sich seines Lebens sicher sein. Wer gegen das System ist und das laut ausspricht, lebt gefährlich.“

Wenige Tage später kommt es im türkischen Parlament zum Eklat. In der letzten Sitzung vor der Sommerpause hält Ahmet Şık seine erste Rede als Abgeordneter. Er wirkt aufgeregt, spricht so schnell, dass sich seine Worte fast überschlagen. Die Hände auf das Rednerpult gestemmt, attackiert Şık die Regierung scharf. „Wir müssen darüber diskutieren, ob Ihre Regierung legitimiert ist und ob das, was Sie machen wollen, rechtmäßig ist“, liest er von seinem Skript vor, ohne aufzublicken.

„Mit diesem neuen Gesetzesentwurf, den Sie uns vorgelegt haben, sind Sie nicht mehr als eine schlechte Karikatur der Putschisten.“ Im Publikum gibt es erste Zwischenrufe. Er bringt das Grubenunglück in Soma zur Sprache und die inhaftierten HDP-Mitglieder. Als er der Regierung vorwirft, unmoralisch zu sein, eskaliert die Lage. Mehrere AKP-Abgeordnete unterbrechen ihn mit Zwischenrufen und stürmen das Podium. Der Parlamentspräsident schaltet Şık das Mikrofon ab.

Nach seiner Rede verklagte die Regierungspartei AKP Ahmet Şık wegen „Beleidigung und Verleumdung“ auf 100.000 Türkische Lira Entschädigung. Ab Oktober will Şık weitermachen.

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe

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