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TürkeiLetzte Hoffnung auf Teilhabe

Nach vielen Jahren wollen die Kurden endlich wieder ins türkische Parlament einziehen. Das könnte klappen, vorausgesetzt, am 22. Juli werden mindestens zwanzig ihrer Einzelbewerber gewählt.

Besonders für junge Kurden immer noch ein Held: Abdullah Öcalan Bild: dpa

Es ist kein Ende abzusehen. Tausende Autos bewegen sich von den Bergen hinab in das Grenzstädtchen Cizre am Tigris. Sie sind mit Postern des verstorbenen Orhan Dogan beklebt, der heute zu Grabe getragen werden soll, und sie drängen auf den Checkpoint vor Cizre zu. Doch die von vielen befürchtete Konfrontation bleibt aus. Die türkischen Milizionäre kapitulieren vor der schieren Masse, sie haben wohl auch Anweisung, Auseinandersetzung zu vermeiden. Als die ersten Wagen den Kontrollpunkt erreichen, sind die Sperren geräumt - der Strom kann ungehindert fließen.

Die Türken wählen

Am 22. Juli wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. 42,5 Millionen Wähler sind aufgefordert, ihre Stimme abzugeben. Es wird damit gerechnet, dass die regierende AKP des türkischen Ministerpräsidenten Tayyip Erdogan mit 40 Prozent der Stimmen gewinnt. Auf die Oppositionspartei CHP könnten demnach 18 Prozent entfallen. Zudem dürften 29 Unabhängige ins Parlament einziehen, die meisten davon aus der kurdischen Region.

Bisher ist die kurdische Regionalpartei DTP immer an der 10-Prozent Hürde gescheitert. Diesmal versucht sie es mit einer neuen Strategie: Die Partei selbst nimmt an der Wahl gar nicht teil, ihre Kandidaten treten als Unabhängige an. Damit haben sie gute Chancen, in etlichen Gebieten im Südosten ihren Wahlkreis zu gewinnen. Da man ab 20 Abgeordneten eine Fraktion bilden kann, hofft die DTP, anschließend erstmals als eigene Kraft im Parlament vertreten zu sein. JG

Mahmut S. ist glücklich. "So eine Demonstration hat Kurdistan noch nicht gesehen", jubelt der Journalist. Er berichtet live für Roj-TV, den PKK-nahen Sender. Mahmut S. hat Tränen in den Augen, so dass er kaum noch seine Videokamera bedienen kann. Es ist ein großer Moment.

Offiziell handelt es sich bei diesem Großereignis gar nicht um eine Demonstration, sondern um eine Beerdigung. Aus allen Teilen des kurdisch besiedelten Südosten, selbst aus Ankara, Istanbul und Izmir sind sie an diesem glühend heißen Tag gekommen, um Orhan Dogan, dem Helden der kurdischen Bewegung in der Türkei, das letzte Geleit zu geben. Wenige Tage zuvor ist Dogan auf einer Wahlveranstaltung an einer Herzattacke gestorben. Man munkelt, auf dem Weg ins Krankenhaus sei der Sauerstoff ausgegangen, die Flasche sei nicht richtig gefüllt gewesen. Deshalb, glaubt Mahmut, ist Orhan Dogan gestorben: wegen der skandalösen Verhältnisse im Gesundheitssystem hier.

Dogan war einer der vier kurdischen Politiker, die Anfang der 90er-Jahre, damals noch über die Liste der Sozialdemokraten, ins Parlament gekommen waren. Wegen angeblicher Unterstützung der separatistischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) war er später ausgeschlossen worden und hatte jahrelang im Gefängnis gesessen. Die prominenteste Figur dieses Abgeordnetenquartetts ist wohl Leyla Zana, selbstverständlich ist auch sie heute nach Cizre gekommen.

Die 83.000-Einwohner-Stadt ist der Geburtsort von Orhan Dogan. Dennoch scheint es mehr als ein Zufall zu sein, dass die Beerdigung hier stattfindet. Die Stadt, gelegen am Fuße der Cudi-Berge, ist ein Symbol für die Auseinandersetzung zwischen der PKK und der türkischen Armee. Die PKK hatte lange Jahre die Berge, die bis in den Nordirak hineinragen, beherrscht, in der ersten Hälfte der 90er-Jahre war Cizre sogar unter ihrer Kontrolle. Es kann kaum einen sensibleren Ort für eine große Demonstration kurdischen Nationalbewusstseins geben als Cizre.

Terroristentreffen in Idil

Als der Konvoi den Kontrollpunkt passiert hat, ist die Stadt im Nu verstopft. Die Leute lassen ihre Autos stehen und schließen sich dem Trauerzug durch den Ort an. Während die Einwohner von Cizre von ihren Hausdächern den Gästen zujubeln, lassen die auf der Straße Abdullah Öcalan hochleben. Der seit acht Jahren gefangene PKK-Führer genießt vor allem unter den kurdischen Jugendlichen Kultstatus.

Von der Polizei ist weit und breit nichts zu sehen, auch die Gendarmerie hält sich völlig zurück. Dabei liegt Cizre heute wieder in dem Gebiet, das das Militär zur besonderen Sicherheitszone erklärt hat. Fast 200.000 Soldaten sind kürzlich hierher verlegt worden, um der Drohung, notfalls in den Nordirak einzumarschieren, um dort die PKK zu bekämpfen, den entsprechenden Nachdruck zu verleihen. Trotzdem geben sich die heute in Cizre versammelten Kurden erstaunlich selbstbewusst. "Sie können uns nicht mehr stoppen", ist Mahmut S. überzeugt. Er deutet auf die 200.000 Demonstranten: "Oder sind das hier alles Terroristen?" Eine solche Manifestation "wäre vor ein paar Jahren noch unmöglich gewesen".

Ein paar Stunden zuvor hat es in Idil ein merkwürdiges Terroristentreffen gegeben. Dort, fünfzig Kilometer vor Cizre, versammeln sich im Parteibüro der kurdischen DTP, der Nachfolgeorganisation der kurdischen sozialdemokratischen Dehap, dreißig ältere, gesetzte Herren. Auf dem Dach des baufälligen Hauses warten sie bei einem Glas Tee auf weitere Trauergäste. Während im gedämpften Ton geplaudert wird, zeigt Mahmut S. von einem auf den anderen und sagt: "Die haben alle als PKKler im Gefängnis gesessen. Sehen so Terroristen aus?" Tatsächlich reden die Männer und die einzige anwesende Frau keineswegs über geplante Anschläge, sondern über den laufenden Wahlkampf.

Am 22. Juli wird in der Türkei gewählt. Erstmals seit dem parlamentarischen Intermezzo von Orhan Dogan, Leyla Zana und zwei weiteren kurdischen Abgeordneten 1993 schicken sich die national gesinnten Kurden wieder an, Abgeordnete nach Ankara zu schicken (siehe Kasten). Aktuelle Umfragen prognostizieren 29 Einzelbewerber, die es ins Parlament schaffen könnten. Die meisten von ihnen wären Kurden.

Von deren Erfolg ist Serafettin Yilmaz überzeugt. Der 45-Jährige wollte selbst einer der "Tausend Kandidaten der Hoffnung" werden, wie die DTP ihre Kampagne nennt. Doch die zentrale Wahlkommission hat ihn als Bewerber für das Parlament nicht zugelassen. Er war, wie viele andere, als tatsächliches oder vermeintliches PKK-Mitglied im Gefängnis und darf etliche Jahre nicht mehr kandidieren. Doch das ist nicht der einzige Grund. Yilmaz gilt als Symbolfigur für die Auseinandersetzung mit der türkischen Armee, er ist für viele Kurden der lebende Beweis dafür, dass sie Freiwild sind, für die der Schutz des Rechtsstaates nicht gilt.

Am 9. November 2005 detonierte in dem Buchladen von Seraffetin Yilmaz eine Bombe. Zwei Menschen starben: sein Cousin Ali Yilmaz und ein Kunde, der Jugendliche Mehmet Zahir Korkmaz. Seraffetin hatte wenige Minuten zuvor den Laden verlassen, um etwas einzukaufen. Der Attentäter rannte nach der Explosion zu einem in der Nähe geparkten Auto und versuchte mit zwei weiteren Männern, die dort auf ihn gewartet hatten, zu fliehen. Vom Lärm der Explosion aufmerksam geworden, waren etliche Leute aus den Läden der Umgebung auf die Straße gelaufen, sahen den Bombenleger zum Auto rennen und blockierten die Straße. Anschließend zerrten sie die drei Männer aus dem Auto, durchsuchten sie und den Wagen und fanden schnell heraus, dass es sich um zwei Angehörige des Militärgeheimdienstes Jitem und einen kurdischen Informanten handelte. Die in flagranti erwischte Agenten wurden fast gelyncht, es folgte ein tagelanger Aufruhr, bei dem mehrere Menschen erschossen wurden.

Wahlkampf in Lila

Seraffetin Yilmaz hat seinen Buchladen in eine Gedenkstätte für den Anschlag umgewandelt. In zwei Vitrinen stehen die Fotos der Toten und die bei dem Anschlag mit Blut befleckten Bücher. Er hat Bilder von den anschließenden Demonstrationen aufgehängt und draußen vor dem Laden steht groß: "Hier war der Anschlag von Semdinli".

Semdinli ist, wie Cizre, ein sehr spezieller Ort. Es liegt im letzten, südöstlichen Zipfel der Türkei, wo die irakische und die iranische Grenze aufeinandertreffen. Der Ort ist von hohen Bergen umgeben, um nach Semdinli zu kommen, muss man auf den letzten vierzig Kilometern zwei Pässe und drei Kontrollposten der Armee überwinden. Selbst am helllichten Tag hallen die Schüsse aus den Bergen, wo Militär und PKK sich ihre Gefechte liefern.

Trotzdem findet in Semdinli unverdrossen und mit großer Begeisterung Wahlkampf statt. Allerdings ist außer dem Lila der DTP-Fähnchen kaum etwas zu sehen. Das Büro der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) ist geschlossen und von der linksnationalistischen CHP oder gar der rechtsradikalen MHP ist gar nichts zu sehen. Dafür ist der Laden der DTP umso voller, unübersehbar gibt die Partei hier den Ton an. Praktisch alle Honoratioren des Ortes gehören dazu, der Buchhändler Seraffetin Yilmaz, der Bürgermeister Hursi Tekin und der Großbauer Mehmet Sahin. Alle glauben, dass nächste Woche die drei Abgeordneten, die aus ihrer Provinz ins Parlament geschickt werden, Unabhängige der DTP sein werden. Von der AKP sind sie enttäuscht, zumal die Regierung, ausnahmsweise einmal im Einvernehmen mit der Opposition, in einer der letzten Sitzungen des Parlaments schnell noch das Wahlgesetz zu ihren Ungunsten geändert hat. Bisher konnten Unabhängige mit einem eigenen Wahlzettel gewählt werden, nun aber werden sie auf einem einzigen großen Blatt, das bis zu 80 Zentimeter lang ist, mit aufgeführt. Für die vielen Analphabeten in den kurdischen Dörfern wird es deshalb sehr schwer, auf dem Wahlzettel den richtigen Unabhängigen zu finden. Der Wahlkampf der DTP besteht deshalb vor allem darin, über die Dörfer zu ziehen und den Leuten beizubringen, wie sie ihren Kandidaten auf dem Wahlzettel finden.

Auf die Frage, was sie sich eigentlich davon erwarten, wenn die DTP in Ankara im Parlament sitzt, reagieren die Honoratioren von Semdinli mit Unverständnis. Das sei doch klar, die Kurden hätten dann endlich eine eigene Stimme. "Es wäre gut für die Demokratie in der Türkei und würde uns das Leben erleichtern", sagt Bürgermeister Hursi Tekin.

Mahmut S. hatte es einige Tage zuvor in Cizre noch präziser ausgedrückt: "Wenn sie uns dieses Mal im Parlament wieder keine Chance geben, wird der Krieg richtig losgehen."

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