■ Türkei: Wie weiter nach dem Rücktritt der Yilmaz-Regierung?: Überfällige Erneuerung
Kommt jetzt das Chaos? In den letzten Monaten hat der türkische Ex-Ministerpräsident Mesut Yilmaz einen Rücktritt, der die Möglichkeit zu vorgezogenen Neuwahlen eröffnen sollte, stets mit dem Argument abgelehnt, nach ihm käme nur noch das Chaos. Nun ist er gestürzt worden, und das türkische Parlament kann nun zeigen, ob es zu einer demokratischen Lösung in der Lage ist.
Die Gerüchte, welche neue Regierungskonstellation Präsident Demirel ins Auge gefaßt hat, sind freilich wenig ermutigend. Tansu Çiller ist wieder im Spiel, sogar eine Neuauflage der bereits einmal gescheiterten Çiller/Yilmaz-Regierung im Gespräch. Denn auf jeden Fall soll verhindert werden, daß die stärkste Fraktion, die islamische Tugendpartei, mit der Regierungsbildung beauftragt werden muß.
Die Mehrheit der türkischen Bevölkerung ist entsetzt darüber, mit welchen Machenschaften die führenden Politiker immer wieder in Verbindung gebracht werden. Beide Vorsitzenden der bürgerlichen Rechten, Yilmaz und Çiller, sind diskreditiert. Die sozialdemokratischen Vorleute, Deniz Baykal und Bülent Ecevit, sind völlig verbraucht. Eine personelle Erneuerung ist überfällig.
Woran es zur Zeit mangelt, ist ein politisches Angebot jenseits der islamischen Tugendpartei und des erneuten Rufs nach dem Militär. Der Bankrott des bisherigen politischen Führungspersonals der rechten bürgerlichen und der sozialdemokratischen Parteien könnte endlich Bewegung in die blockierte politische Landschaft bringen. Politische Parteien sind bis jetzt vor allem Organisationen der Klientelwirtschaft. Abgeordnete sind auf ihre Parteiführer festgelegt, eine inhaltliche Debatte findet in den Parteien kaum statt.
Die Mafia-Verstrickungen der Führungsleute sind deshalb auch eine Chance für die Abgeordneten quer durch die Parteien, neue Formationen aufzubauen. Seit längerem drängen Intellektuelle, Medienleute und auch Vertreter der Wirtschaftsverbände auf eine substantielle Erneuerung der Parteien. Wenn sich der akute Sturm der Empörung in der türkischen Öffentlichkeit wg. Öcalan gelegt hat, könnte Italien als Modell für diese Transformation gelten.
Falls es die Parteien mittelfristig nicht fertigbringen sollten, neue, unbelastete Leute in führende Positionen zu wählen, wird es gefährlich. Dann könnte es erneut zu einem Showdown zwischen Islamisten und Militär kommen. Dann droht zwar nicht das Chaos, aber eine Niederlage für die Demokratie in der Türkei. Jürgen Gottschlich
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen