■ Türkei: Der islamistische Premier Necmettin Erbakan gibt sich moderat und setzt auf den weiteren Ausbau der Macht: Wechselndes Gewand, gleiches Ziel
„Wir sind nicht an die Macht gekommen, um uns darum zu kümmern, was die Leute essen oder trinken, sondern um die wahre Demokratie einzuführen. Unsere Wohlfahrtspartei ist der Garant dieser Demokratie.“ Mit diesen Worten zog Necmettin Erbakan, seit Juli erster islamistischer Regierungschef der Türkei, jüngst selbstbewußt eine erste Bilanz. Zur Charakterisierung derart ungenierter Bekenntnisse hat man in der Türkei inzwischen einen im politischen Leben der säkularen Republik längst vergessenen religiösen Terminus wiederbelebt, der einen alten islamischen Rechtskniff bezeichnet: Von morgens bis abends betreibe Erbakan „Takiyye“, kommentiert die angesehene Cumhuriyet die Beteuerungen des Regierungschefs, das heißt, nach altislamischer Manier lüge der „Hodscha“ (Meister) bis zur Selbstverleugnung, um so sein Überleben zu gewährleisten.
Vor allem nach außen scheint Erbakan demonstrieren zu wollen, daß die traditionell prowestliche Außenpolitik unter den Islamisten die lang angekündigte Kurskorrektur erfahren werde. „Ausschließlich den eigenen nationalen Interessen“ sollten fortan engere Beziehungen zu „islamischen Bruderländern“ dienen. Im Nachbarland Iran wurde im August mit Gastgeber Rafsandschani die neue Ära der Beziehungen als „Modell in der islamischen Welt“ gefeiert.
Erbakans Visite bei Libyens Machthaber Gaddafi im Oktober war dagegen desillusionierend. Die Schelte des Libyers für die immer noch „beklagenswerte Westorientierung“ der türkischen Außenpolitik zeigt, daß Erbakans Anspruch, sein Land nach osmanischem Vorbild wieder zur „führenden Nation des islamischen Welt“ zu machen, außerhalb der Landesgrenzen nur Befremden auslöst. Zudem verbitterte Gaddafis Forderung nach Bildung eines unabhängigen kurdischen Staats die türkischen Nationalisten.
Doch bleibt erkennbar, daß Erbakan außenpolitisch riskiert, was ihm innenpolitisch noch zu heikel erscheint: die Umsetzung der an seine radikalere, fundamentalistische Klientel gerichteten Wahlversprechen – die Islamisierung des öffentlichen und sozialen Lebens in der Türkei, ja, die Umwandlung der säkularen Republik in einen islamischen Gottesstaat. Europäische Medien waren schnell bereit, Erbakans Bekenntnis zur „besonderen Stellung unserer heldenhaften Streitkräfte“ und zum wahren, „nur von der Wohlfahrtspartei vertretenen Laizismus, in dessen Namen nicht mehr Religionshetze und Atheismus betrieben“ werden dürfe, als seinen Wandel zum Revisionisten und Pragmatiker zu werten.
In der türkischen Öffentlichkeit ist indessen nicht vergessen, daß die Dezemberwahlen von 1995 die Wohlfahrtspartei nur mit gut einem Fünftel der Stimmen als stärkste politische Kraft bestätigten. Selbst in der seriösen Presse ist von „geheimen Absprachen“ die Rede. Sie sollen neben großen finanziellen Aufwendungen die zunächst für unmöglich gehaltene Koalition aus Islamisten und der rechtskonservativen Partei des Rechten Weges der früheren, von Korruptionsvorwürfen verfolgten Regierungschefin Tansu Çiller erst zustande gebracht haben. Demnach sollen sich beide Parteivorsitzenden verständigt haben, daß keiner der Koalitionspartner mit parlamentarischen Untersuchungsausschüssen zu rechnen habe. Ferner wolle man eine erneute Kandidatur von Staatspräsident Demirel verhindern und Çiller zu seiner Nachfolgerin machen. Nicht nur solche möglichen Kungeleien lassen die Koalition wenig langlebig erscheinen. Die Instabilität dieser Regierung erschien von Anfang an vorprogrammiert.
Alle potentiellen Erfolge der Koalitionsregierung dürften aber Erbakans Wohlsfahrtspartei zugute kommen, während man der früher als Garantin des Laizismus angetretenen Çiller den politischen Kurswechsel kaum verzeihen wird. Die gravierendsten Probleme des Landes: der Kurdenkrieg (mit 25.000 Toten), die immense Auslandsverschuldung, die Inflation (80 Prozent), Reallohnverluste und die immer größere Kluft zwischen Arm und Reich hat keine der vergangenen Regierungen in den Griff bekommen. Die sich nach dem Putsch von 1980 zu einer unübersehbaren politischen Kraft etablierenden islamischen Ideologen mußten bislang in staatlicher Verantwortung wenig unter Beweis stellen: Von der erst gut drei Monate amtierenden Regierung Erbakan hat man bisher trotz hoher Erwartungen nicht die umgehende Einlösung aller Wahlversprechen verlangt. Der Bonus der unverbrauchten Kraft verhilft Erbakan zum langen Atem. Erst höhere Wahlsiege oder gar die absolute Mehrheit würden den Islamisten grundlegende gesellschaftliche Veränderungen gestatten. Die Opposition gilt es vorerst mit besseren Dienstleistungen und liberalem Verhalten zu beschwichtigen, während radikalere Wünsche der islamistischen Basis noch zurückstehen müssen.
Zu diesem „Konzept für die Zukunft“ gehört bereits heute, daß Erbakan knapp 250.000 seiner Anhänger in den Staatsdienst einschleusen läßt, um den Apparat zu unterwandern. Zugleich wurden in diesem Sektor die Gehälter um die Hälfte erhöht. Auch im Bildungswesen sorgen die Religiösen vor wie schon seit 1983 unter den konservativ-islamfreundlichen Regierungen. Seitdem haben die sogenannten „Priester- und Predigerschulen“ (Imam-Hatipokullari) einen enormen Aufschwung erlebt. Wurden 1951/52 lediglich 989 Schüler dort ausgebildet, sind es 1996 bereits 515.000. Der größte Teil der Absolventen wird nach achtjähriger, streng religiöser Ausbildung freilich nicht im Moscheendienst untergebracht, sondern in der staatlichen Verwaltung. Erbakan leugnet die Islamisierung des Staatsapparats nicht, doch initiiert hatten sie konservative Regierungschefs vor ihm.
Erbakans Partei bietet nach dem Wahlerfolg von 1995 ein ideologisch unschärferes Bild als früher. Nur ein Drittel seiner Wähler ist noch traditionell religiös motiviert, in den Städten entfallen zwei Drittel auf diejenigen, die sich von der alten Linken verlassen fühlen. Die optimistische Prognose, daß die Regierungspartei damit schon auf dem Weg zur islamischen „Volkspartei mit pluralistischem Gesicht“ sei, ist aber noch lange nicht bestätigt. Bislang steht nur fest: Die islamistische Partei Erbakans ist heute die am besten organisierte und erfolgreichste Partei des Landes. Seit Jahrzehnten präsentiert sie sich in wechselndem Gewand, doch mit gleichgebliebenem Ziel – der Umwandlung der Republik Türkei in einen islamischen Staat. Nie wähnte sie sich diesem Ziel näher. Petra Kappert
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