■ Tschetschenien: Wenn heute das Grosny-Ultimatum abläuft, hat die russische Führung keine bedrohlichen Proteste zu fürchten. Boris Jelzins Drohung mit Atomwaffen hat den Punkt getroffen. Die Angst vor der ehemaligen Großmacht ist immer noch übermächtig: Der Westen schaut jetzt nur noch zu
War es nur das Gerede eines alten kranken Mannes oder eine ernst gemeinte Botschaft des russischen Präsidenten Boris Jelzin, als er in Peking daran erinnerte, dass Russland über Atomwaffen verfüge? Die Äußerungen jedenfalls schlugen in den westlichen Hauptstädten außerordentlich hohe Wellen.
Natürlich versuchten die westlichen Diplomaten sogleich, die Situation um den Tschetschenien-Krieg zu entschärfen und die Öffentlichkeit zu beruhigen. Auch der russische Premier Wladimir Putin bemühte sich, die Wogen zu glätten. Doch mit den Äußerungen Jelzins wurde den in Helsinki versammelten europäischen Politikern deutlich, was viele westliche Diplomaten seit den Konflikten auf dem Balkan und dem Krieg im Kosovo befürchten: Die russische Politik sei trotz aller Bemühungen um Integration in die internationalen Institutionen immer noch als unberechenbar einzustufen.
Gefährlich also? Schon in dem Gerangel um das Abkommen von Rambouillet und dem Krieg im Kosovo zeigten sich Kontroversen, die weit tiefer reichten, als dies der Öffentlichkeit erscheinen mochte. Nur gegen erhebliche Widerstände und mit dem Versprechen weitreichender Wirtschaftshilfe war der russischen Führung ihre Unterstützung des westlichen Kurses gegenüber Miloševic abzuringen. Moskau gab zähnknirschend nach.
Die angesichts ihrer vergehenden Weltmachtrolle ohnehin in ihrem Stolz getroffene russische Elite blieb jedoch empfindlich. Boris Jelzin sprach bei seinen Freunden in China nur aus, was fast alle russischen Diplomaten denken: Russland sei doch kein Bananenstaat, mit dem man umspringen könne, wie es einem beliebt. Man verbitte sich eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten.
Doch dem Westen bleibt angesichts der Tragödie in Tschtschenien gar nichts anderes übrig, als dies zu tun. In den internationalen Organisationen gilt das Prinzip der „Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten“ immer mehr als obsolet, wenn es um Menschenrechte geht. Dem steht die Befürchtung gegenüber, ein harter Kurs würde nur die starren Kräfte im Kreml stärken. Im aktuellen Konflikt schwankt der Westen wie stets zuvor zwischen Appeasementpolitik und offener Konfrontation.
Die Entscheidung läuft in Richtung einer Mischung aus beiden Elementen. Während der Nato-Generalsekretär George Robertson Verständnis für die russische Militäraktion durchblicken ließ, versuchten andere, wie auch der amerikanische Präsident Bill Clinton, der russischen Führung lediglich rhetorisch Recht zu geben. Sie sprachen zwar von der Notwendigkeit des antiterroristischen Kampfes, warnten jedoch anderseits, mit der Militäraktion destabilisiere Russland sich selbst. Zu mehr als einer indirekten Warnung wollte sich Clinton am Freitag aber nicht hinreißen lassen. Sanktionen schloss er aus.
Die Deutschen schienen da ein bisschen offener. Bundesaußenminister Joschka Fischer sprach, anspielend auf das Ultimatum des russischen Militärs an die Bevölkerung von Grosny, von „Barbarei“ und forderte von der EU, alle politischen Möglichkeiten auszuschöpfen, um Russland zum Rückzug zu bewegen. Bundeskanzler Gerhard Schröder drohte am Freitag, die Wirtschaftshilfe und vor allem die Kredite zu stoppen. Und die französische Regierung erklärte, man könne sich durchaus wirtschaftliche Maßnahmen gegenüber Russland vorstellen.
Gestern abend schlug das Pendel jedoch wieder in Richtung Appeasement aus. Die EU entschloss sich, die Türen für Moskau nicht zuzuschlagen. Der Angriff auf Grosny kann rollen. Der Westen kann für die tschetschenische Bevölkerung jetzt nichts mehr tun, lautet die Botschaft. Die Spannungen sind damit aber nicht überwunden. Erich Rathfelder
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen