Blauer Dunst: Nein danke!: Trotzreaktion
■ Warum eine Zigarette nicht vor der Bürgerlichkeit bewahrt
Ob es prickelnder ist, einen pelzigen Raucher-Mund zu küssen als klebrige Kaugummi-Lippen, gehört zu den existentiellen Fragen jeder trunkenen Pyjamaparty. Sind belegte Zungen würdeloser als grau-beige Gummifäden zwischen den Schneidezähnen? Lieber angegilbte Hände halten oder solche, die nach Doublemint riechen? Ja, meint Martina, deren Andreas täglich zwei Schachteln raucht, was beide viel, aber nicht zuviel finden. Nein, meint Inga, deren Liebster auch Andreas heißt und kaut, statt zu schmauchen. Viele Bierchen später erst geht es um das, worum es wirklich geht: Daß Andreas I ungleich freakiger ist als Andreas II – zum einen weil Martina lauter pöbelt als Inga, zum anderen weil RaucherInnen sichimmer für kreativer und weniger angepaßt halten als KauerInnen – schon weil sie Gesundheitszwängen trotzen.
Die Nachthemdparty mal beiseite (Martina hat sich inzwischen von Andreas I getrennt, gar nicht lange nach der Fete, und jetzt raucht er aus Frust): Gerade in Alternativ-Betrieben wird aus Stilgründen ohne Ende gequalmt, heißt selbst bestimmen auch selbst anzünden. Rauchen ist in, weil es eigentlich out ist; weil selbst der Bundesgesundheitsminister sagt, daß „eine Zigarette dieser Marke“mindestens soviel Teer wie Kondensat enthält und daß beides der Lunge Böses will. Und wer gehorcht schon Claus Seehofer, wenn man ihm statt dessen Rauch in die Augen blasen kann.
Doch Zigaretten schützen vor Bürgerlichkeit nicht: Da werden Reihenhäuser im Grünen gekauft und Jahreswagen geleast. RaucherInnen kaufen Eigentumswohnungen, fahren Audi – oder verwickeln sich in spießige Trotzhandlungen, falls keine Zigarette greifbar ist: Da ist der sechsstöckige Schreibtisch Marke „kreatives Chaos“. Oben liegt, was gestern wichtig war; darunter knittern Kladden von vor einer Woche. So geht es weiter bis zur Spanplatte – je tiefer, desto älter, und kein Grund zur Hektik. Nur eines kann den Stapel ins Rutschen bringen: Zigaretten, die irgendwo dazwischen liegen. Dann teilen Hände das Chaos, fluchen Münder und schelten Stimmen. Panik, Alarm! Wie können Menschen arbeiten, während einen Tisch weiter der Nikotinspiegel sinkt! Der Ausbruch gipfelt in dem Ruf: „So kann ich nicht arbeiten!“was endlich die KollegInnen dazu bringt, ebenfalls die Kippen zu suchen.
Lustig ist dabei erstens, daß Wühlen im Altpapier nicht eine Filterbreite mit jener Würde gemein hat, die RaucherInnen bei Wrigley's-FetischistInnen zu missen meinen. Lustig ist zweitens, daß manche RaucherInnen Chaos und Schmauchen als einziges Überbleibsel in die Bürgerlichkeit gerettet haben. Aber wer sich den Zwängen von Bausparverträgen, Mietgaragen und Kinderwagen-Schieben unterwirft, hat mit alternativem Leben längst abgeschlossen. Da macht der Gang zum Reformhaus auch dann keinen Revoluzzer, wenn er am Zigarettenautomaten vorbeiführt. Judith Weber
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