Traumahilfe: Die Erbin des Krieges
Bosiljka Schedlich hat während der Jugoslawienkriege tausenden Traumapatienten geholfen. Auch sie kommt aus einer kriegsgeschädigten Familie.
Die erste Erinnerung von Bosiljka Schedlich ist das dumpfe Gefühl, es nicht mehr auszuhalten in ihrem Dorf in den kroatischen Bergen. Jämmerlich weinend rennt sie Erwachsenen auf dem Weg in die Stadt hinterher: "Ich will mit, ich will mit!" Mit in die Stadt, drei Stunden zu Fuß, bloß fort! Drei Jahre ist Bosiljka Grgurevic alt und wild entschlossen; sie rennt, schreit, fällt, schreit. Flüche und Steine prasseln auf sie herab. Nur die Großmutter lacht, hebt das Kind auf, schüttelt den Kopf: "Bosa, wenn du so weitermachst, kommst du irgendwann bis nach Berlin."
Berlin war das Ende der Welt. Die Welt, das war ein Dorf in den Dinarischen Alpen. Damals, in den 1950er-Jahren, nur spärlich mit Strom versorgt. Im Winter überzogen sich die Bettdecken mit Raureif. Prügeleien gehörten zum Umgangston. An Winterabenden erzählte man sich die Geschichte der Vorfahren bis ins 15. Jahrhundert hinein. Nur über die letzten Jahre wurde geschwiegen. Ururgroßvater und Urgroßvater waren in Kriegen gefallen, der Großvater hatte in zwei Kriegen zwei Frauen verloren. Nur der Vater schwieg und starrte ins Feuer. Bosa fürchtete ihn und die anderen Männer des Dorfes. Ihre Wutausbrüche, ihre Blicke ins Leere.
"Es war eine Steinzeitwelt", sagt Schedlich ein halbes Jahrhundert später und zieht fröstelnd die Schultern hoch. Sie sitzt in ihrem Büro im Beratungszentrum "südost" in Kreuzberg. Längst ist sie an jenem Ende der Welt angekommen, vor dem ihre Großmutter sie warnte.
Ursprünglich wollte Schedlich nach dem Fall der Mauer einen jugoslawischen Kulturverein in Berlin aufbauen, doch die Jugoslawienkriege brachten dringendere Probleme. Über 30.000 Kroaten, Serben und bosnische Muslime flohen zwischen 1991 und 1995 nach Berlin: traumatisiert, voller Rachegefühle und gänzlich unvorbereitet auf das Leben in der fremden Großstadt. Das schmucklose Kreuzberger Haus mit dem "südost"-Wimpel wird im Nu zu einer wichtigen Anlaufstelle. Statt Kunstausstellungen organisierte Schedlich nun Kleiderspenden und Selbsthilfegruppen, seelische Erste Hilfe und Gesprächsrunden, in denen die Flüchtlinge erzählen, was sie erlebten.
"Ich habe mich für jeden einzelnen Flüchtling verantwortlich gefühlt, für Serbokroaten ebenso wie für bosnische Muslime oder Kosovoalbaner", erinnert sich Schedlich. "Mit ihren Geschichten bin ich auf einmal nicht mehr in die Zukunft gewachsen, sondern in die Vergangenheit." Diese Empathie ist Schedlichs großes Talent - und ihre große Gefahr: "Ich dachte: Diese Leute haben die Ereignisse überlebt, von denen sie erzählen. Dann werde ich es auch überleben, ihnen zuzuhören." Da jedoch irrt sie. Die Traumagruppen bescheren ihr unzählige schlaflose Nächte, an deren Ende sie sich im Grab liegen sieht und nicht mehr aufstehen will.
Einmal, beim Zuhören, als einer berichtet, wie er aus Srebrenica flieht, wie er Schüsse hört, wie er Menschen fallen sieht, wie er Tote umdreht, um Söhne und Brüder zu finden, bricht sie zusammen. "Ich hatte das Gefühl zu implodieren", wird Schedlich sich später erinnern. Sie, die nie einen Krieg erlebt hatte, erkennt plötzlich, wie ihr ganzes Leben von Spuren des Krieges durchkreuzt ist.
Jetzt thront die 60-Jährige auf einem mächtigen Eichenhocker in ihrem Büro und hat alles wieder im Griff: Vergangenheit und Gegenwart. "Während des Berichts aus Srebrenica sah ich plötzlich die Leere im Blick meines Vaters, wenn er sagte: ,Wir waren 200 … es blieben nur fünf … singend liefen wir weiter.'" Schlagartig sah Schedlich die Lücken seiner Erzählung und verstand, worauf sein Blick gerichtet war: auf die 195 Toten. "Sein Blick, der uns so viel Angst machte, drückte seine eigene Angst aus." Niemand hatte verstanden, dass der Zweite Weltkrieg die Männer traumatisiert hatte. Niemand verstand, warum sie immer brutaler wurden.
Schedlich spricht sanft, aber bestimmt. Sie weiß, dass sie gehört wird: von 30.000 Jugoslawen und Jugoslawinnen in Berlin, von den Innenministern der Länder bis hin zum Flüchtlingskommissar der UN. Nur ungern lässt sie sich unterbrechen. In ihren Erzählungen zieht sie einen Faden zwischen Jugoslawien und Deutschland, zwischen ihrem Geburtsort in den Bergen, der Hafenstadt Split und Berlin.
Im Dorf ist sie das sture Kind, das sich weigert, Fleisch zu essen, weil es Tiere so liebt. In Split ist sie das primitive Bauernmädchen mit den schlechten Kleidern. Nur die Lehrer ermutigten sie, ihren Weg zu gehen. Nicht Verkäuferin zu werden, wie es der Vater will. Nicht Analphabetin wie die Mutter. Bosiljka will Germanistik studieren. "Wenn du damit fertig bist, bist du nichts!", poltert ihr Vater.
1968 geht die Abiturientin als Gastarbeiterin nach West-Berlin, arbeitet in Fabriken, teilt mit sechs Frauen ein Zimmer. Ein Jahr lang wollte sie Geld fürs Studium in Jugoslawien verdienen und dann zurückkehren. Schedlich lächelt: "Das Jahr ist noch nicht um." Sie bekommt einen Studienplatz in Berlin, arbeitet als Dolmetscherin, verliebt sich in einen Deutschen, bringt zwei Kinder zur Welt und bleibt. 40 Jahre nach ihres Vaters Verwünschung ist sie Spezialistin für Kriegstraumata, trägt das Bundesverdienstkreuz der Bundesrepublik und ist als eine von 1.000 Frauen für den Friedensnobelpreis nominiert.
Dennoch, ganz aus Jugoslawien weggegangen sei sie nie, sagt Schedlich und zerkaut das Blatt einer Oreganopflanze, die eine Kollegin ihr geschenkt hat. Noch immer besitzt sie den kroatischen Pass, spricht Kroatisch mit Kindern und Enkeln, besucht einmal im Jahr ihre drei Geschwister in Kroatien und die Gräber ihrer Verwandten. "Ich habe ganz leichte Wurzeln, fast Luftwurzeln, die ich überall anlegen kann."
Schedlich spricht oft poetisch, ihr Deutsch ist immer druckreif, als könne sie sich keine Schlamperei erlauben. In der Sprache nicht. Im Alltag nicht. Schon gar nicht im südost-Zentrum. Deshalb auch erzählt sie nur ungern, dass sie nach ihrem Zusammenbruch selbst Therapien und Supervisionen benötigte. "Verrückt" sei sie, dass sie sich all diese Gräuel anhöre, findet ihr Bruder. "Durch die Bitterkeit hat sich mir auch die Süße erschlossen", erwidert Schedlich.
Inzwischen sind die Häuser in ihrem Heimatdorf eingestürzt und Wölfe schleichen um die Häuser, weil es niemanden gibt, der sie verjagt. Nur der Friedhof wächst. Nach jugoslawischer Tradition hat Schedlich, wie viele andere, die das Dorf verlassen haben, dort ihr eigenes Grab schon bestellt. Bei der Kirche auf dem Dorfhügel solle es stehen, erzählt sie, über blau leuchtenden Tümpeln, in denen sich der Himmel spiegele, mit nichts als Steinen und Kräutern darauf: "Damit meine Kinder niemals an diesen Ort kommen müssen, um mir Blumen zu bringen."
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