: Traumabewältigung on the rocks
New York findet keinen Schlaf. Gefeiert wird allerdings nicht mehr in den glamourösen Großraumdiskos, sondern in stilvollen Wohnzimmer-Klubs. Die Remote Lounge ist eine Parodie auf den Überwachungsstaat und vergnügungsfeindliche Politik
von TOBIAS MOORSTEDT
Zwei Gänseblümchen blühten letzte Woche auf der Titelseite des Time-Out-New-York-Magazins Tony. Zwei Blumen, ein Grabstein, ein grauer Himmel. „Ein Jahr später …“, steht auf dem Cover, „Die besten Termine, um zu trauern und um sich zu erinnern.“ Fast klingt es so, als habe Vergangenheitsbewältigung in New York bereits so etwas wie Freizeitwert. Das Tony Magazin ist ein Szenekalender. „Ihr Führer zum exzessiven Partyleben.“
Normalerweise zieren nicht Gänseblümchen das Titelblatt, sondern leicht bekleidete Frauen und knallbunte Farben. Doch letzte Woche war keine normale Woche. In seinem Leitartikel schrieb Joe Anglio, Redakteur des Magazins, von der zweiten Septemberhälfte 2001, als das Partymagazin zwei Wochen lang nicht erschien, als man noch dachte, so etwas wie eine Feier werde bis in alle Ewigkeit nicht mehr in Manhattan stattfinden. Als die Ausgehviertel südlich der 14. Straße vom Militär abgesperrt waren. Als Asche durch die Straßen zog. Als der Radiokonzern Clear Channel Communications, dem 1.170 Radiostationen in den USA gehören, eine Liste herausgab mit 150 Liedern, die lieber nicht gespielt werden sollten, darunter „Walk like an Egyptian“ von den Bangles und der Beatles-Song „Ticket to Ride“. Dann verlässt Joe Anglio den Imperfekt, und schreibt: „Das Nachtleben in unserer Stadt ist nicht tot.“
Längst ist die Szene von Downtown Manhattan wieder zum Leben erwacht. Die Mieten sind gefallen. Viele kleine Lounges haben eröffnet. Weiter hinten im Tony-Heft finden sich 78 Seiten voller Termine. „New York feiert, mehr als je zuvor“, sagt Joe Anglio. Wenn sich die Tür der Bar hinter dem Gast schließt, ist die Lücke am Himmel von New York weit weg. Traumabewältigung on the rocks eben.
Viele der glamourösen Großraumdiskos haben allerdings in den letzten Jahren geschlossen. Das hat nur bedingt mit dem 11. September zu tun, sondern ist eine Folge der tanz- und vergnügungsfeindlichen Politik des New Yorker Exbürgermeisters Rudolph Giuliani. Rhythmische Bewegungen sind in allen Etablissements ohne Kabarett-Lizenz verboten, manche Clubs dürfen keinen Alkohol ausschenken. Dass sich das Nachtleben von Manhattan im Jahr eins nach Giuliani überwiegend in Lounges abspielt, war eine notgedrungene Entwicklung nach dem Tanzverbot.
Auf Seite 75 des Tony-Veranstaltungskalenders findet man die Remote Lounge. Ein länglicher Raum im East Village, an den Wänden stehen Sofas im Stil der 70er-Jahre. Eine innovative Mischung aus Kunst, Technologie und Alkohol. Über der Bar hängen Bildschirme. An jedem Tisch stehen Schaltpult samt Monitor und Kamera. Per Tastendruck und Joystick können die Gäste die eigene und über 60 andere Kameras steuern. Wer Kontakt sucht, kann dem Objekt auf dem Schirm, das zuvor detailliert observiert werden darf, eine Bildnachricht senden oder auf einen Anruf vom Nebentisch hoffen. „Es geht bei uns ums Flirten, aber die Leute sollen sich auch mit dem Medium Bildschirm auseinander setzen“, sagt Bob Stratton, einer der Besitzer der Lounge. Die Bar ist voll. Die Menschen starren auf die Bildschirme, als zeigten sie eine andere Form der Wahrheit. Es ist die große Selbstbeobachtung der Szenegänger. Die Live-Übertragung des eigenen Lebens.
Auf den ersten Blick wirkt es wie der sicherste Platz in ganz Manhattan. Den ganzen Kameras würde nichts entgehen. Doch Remote Lounge ist eine Parodie auf den Überwachungsstaat. Die Instrumente der Unterdrückung werden zum Spielzeug. Am Eingang hängt ein Zettel. „Du hast kein Recht auf Privatsphäre. Und du weißt es.“ Der 27-jährige Roman ist oft in der Bar zu Gast. Er findet: „Die große Gefahr für unser Kulturleben sind nicht die Terroristen, sondern die Einschränkung der Bürgerrechte. In einer Bar hat der Staat nichts verloren.“
Remote Lounge, 327 Bowery, above 2nd St., New York City, Tel. (0 01-2 12) 2 28 02 28; www.remotelounge.com
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