Trauerfeier für Christian Ströbele: „Meine Rede ist eine Totenklage“
Mit einer Trauerfeier erinnern taz und Grüne an Christian Ströbele – hier im Videostream. Die taz dokumentiert die Rede, die Ulrich Preuß hielt.
Am Dienstagabend erinnern die taz und die Grünen in einer gemeinsam und öffentlichen Trauerfeier an Christian Ströbele. Der Anwalt, Politiker und taz-Mitgründer war am 29. August im Alter von 83 Jahren gestorben.
Bei der Beerdigung Ströbeles in Berlin-Kreuzberg hatte der Rechts- und Politikwissenschaftler Ulrich K. Preuß an seinen Weggefährten erinnert, mit dem er einst das sozialistische Anwaltkollektiv gegründet hatte. Die taz dokumentiert hier seine Trauerrede.
Liebe Juliana, liebe Familie Ströbele, liebe Freundinnen und Freunde von Christian,
Wir trauern um unseren kürzlich verstorbenen Freund, Kollegen und Mitstreiter Christian Ströbele. Die Geschichte der Tageszeitung taz ist ohne ihn nicht denkbar. Auch die taz Panter Stiftung, die Berliner Grünen, das sozialistische Anwaltskollektiv und viele weitere Stellen, an denen Christian sein Leben lang aus Überzeugung mitwirkte, hat er geprägt wie kein anderer.
Die Gedenkfeier am Dienstag, den 4. Oktober, um 18:30 Uhr in der Arena Berlin, ist öffentlich.
Zur besseren Planung bitten wir um Anmeldung unter taz.de/gedenken
Wenn Sie nicht vor Ort dabei sein können, nehmen Sie gern an unserem Livestream teil: youtu.be/TkAeM5JrLQk
dies ist ein sehr trauriger und schwerer Tag für uns alle.
Der traurigste Freundschaftsdienst ist die Rede auf den Tod des Freundes. Und zugleich der schwerste, denn bei all den vielen, sich über mehr als fünf Jahrzehnte hinziehenden Gesprächen, Diskussionen, gemeinsamen Erlebnissen, bei denen doch so viel geredet und ausgetauscht wurde, versagen im Angesicht der Endgültigkeit des Todes die Worte.
Uns allen hier Versammelten Christian noch einmal in seiner Lebendigkeit gegenwärtig zu machen – das könnte bei diesem ereignisreichen Leben und dieser Person eigentlich nur ein Dichter. Ich will zu den hier versammelten Trauernden sprechen, aber vor allem will ich auch zu ihm sprechen, ihn erwecken, vom Tode erlösen, obwohl ich doch weiß, dass der Tod ihn von dem unerträglichen Leid am Ende seines Lebens erlöst hat.
Wie kann ich, wir können denn wir hier beides wollen – Erweckung aus dem Tod und Erlösung aus den Leiden des Lebens? Wider alle Vernunft wollen wir das – weil Du fehlst, weil wir Dich schon heute vermissen, weil wir weiterleben, einstweilen, aber spüren, dass schon jetzt mit Dir ein Stück unseres eigenen Lebens verloren gegangen ist.
Ich kann keine Trauerrede für ihn halten, ich kann nur klagen, meine Rede ist eine Totenklage. Ich könnte weinen, ich weine – ich sehe Christian vor mir, wir sind in lebhafter kleiner Gesellschaft, alle reden durcheinander, und da sitzt Christian, still, lächelnd, zuhörend, ab und zu mit seiner eher weichen, fast heiseren Stimme eine Bemerkung einwerfend, bescheiden, nicht drängelnd, lächelnd, ja, immer noch lächelnd, geduldig zuhörend und im Genuss der Anwesenheit der heftig und lärmend argumentierenden Freunde. So höre doch auch zu, wie wir heute mit Dir, über Dich reden – klagen, uns unserer Tränen nicht schämend.
In angloamerikanischer Sprechweise sagt man: „He is a character“ – und man denkt, das sagt eigentlich alles, mehr kann man und mehr muss man nicht sagen, wenn man kein Dichter ist. Der Spruch trifft zwar unzweifelhaft auf Christian zu, aber er sagt nicht annähernd genug über ihn.
Boubou, der gutmütige Begleiter
Man muss erzählen, über die kleinen und die großen Ereignisse seines Lebens, so zum Beispiel über die gemeinsamen Spaziergänge mit Juliana und Boubou im Grunewald – Ihr wisst nicht, wer Boubou war? Er war ein schwarzer, ein wenig struppiger und äußerst lebendig-ungeduldiger, aber gutmütiger Hund, jahrelanger Begleiter von Juliana und Christian –, oder die gemeinsamen Fahrten von der Meierottosraße, dem Ort der Anwaltspraxis, zum Kriminalgericht Moabit, die jedes Mal seinen Ehrgeiz anfachten, so nahe wie möglich am Gerichtsgebäude einen Parkplatz zu finden – und, ich konnte es niemals glauben, tatsächlich einen fand, wie grenzwertig diese Trouvaille unter stadtökologischen ebenso wie juristischen Gesichtspunkten auch gewesen sein mag.
Unter der gewiss nicht geringen Menge an polizeilichen, staatsanwaltlichen oder gerichtlichen Postzustellungen waren solche prekären Parkereignisse natürlich Lappalien, deren Erledigung man den Referendaren im Anfangsstadium ihrer Stage überlassen konnte. Am Ende ihrer Ausbildung allerdings hatten sie begriffen, dass sich die Kreativität ihres Ausbilders keineswegs auf das Aufspüren eines versteckten Parkplatzes beschränkte. Viele von ihnen spürten, dass hier jemand einen Beruf ausübte, den sie aus ihrer bisherigen juristischen Ausbildung noch gar nicht kannten – den des Rechtsanwaltes, der sich nicht als Organ der staatlichen Rechtspflege verstand, sondern als Kämpfer für das Recht seiner Mandanten.
Ja, muss man denn in einem verfassungsrechtlich konstituierten, etablierten und garantierten Rechtsstaat für das Recht kämpfen? Sorgt denn nicht der Staat für das Recht?
Doch so einfach ist es nicht. In demokratischen Gesellschaften wie der unsrigen ist das Recht eine fragile gesellschaftliche Einrichtung; es wird zwar fast ausschließlich von staatlichen Organen erzeugt, aber es soll den Geist der Gesellschaft atmen, in deren Namen der Staat handelt. Wieso aber „fragil“, wie ich sagte? Nun, weil das Recht in einer lebendigen Gesellschaft umkämpft ist. Recht ist nicht nur Ordnung, etwas Gegebenes, sondern es verkörpert auch ein Versprechen, etwas noch nicht Eingelöstes: das Versprechen der Gerechtigkeit. Wir sind nicht im Himmel, sondern auf Erden, und hier ist dieses Versprechen des Uneingelösten seinem Wesen nach umkämpft.
Der Angeklagte als Subjekt des Verfahrens
Dies vorausgeschickt, um auf den Kämpfer für das Recht Christian Ströbele zurückzukommen. Jahre nach der Phase der RAF-Prozesse wurde er in einem Interview gebeten, den auch gerade von ihm verkörperten „neuen Typus“ des Anwalts, insbesondere des Strafverteidigers vor Gericht zu charakterisieren. Die Frage kam von einer Sozialwissenschaftlerin, die ein Buch über die Wirkungen der 68er Bewegung auf die Rechtskultur und den Gerichtssaal herausgeben wollte (das dann auch, unter anderem mit dem Interview von Christian, einige Zeit später erschien).
Christian hat sich zeitlebens wenig bis gar nicht für theoretische Fragen und Konstruktionen interessiert. Um so bemerkenswerter ist seine damalige Antwort: „Uns ging es nicht um mildere Strafen oder Freisprüche, sondern darum, den Angeklagten zum Subjekt des Verfahrens zu machen“ – wenn das nicht ein Satz ist, der in jedes Lehrbuch der Rechtsphilosophie passen würde!
So war Christian: Die kompliziertesten Dinge wurden bei ihm einfach, selbst-verständlich – nicht simpel!
Die Angeklagten sollten die Hauptrolle im Strafprozess spielen können. Das hört sich trivial an, war es aber keineswegs. Denn zwar gab es und gibt es in unserem Lande die Garantien einer unabhängigen und unparteiischen Strafjustiz und einer auf der Unschuldsvermutung der Angeklagten beruhenden Strafverteidigung; aber es gab auch Richter, und es gab auch Strafverteidiger.
Über die Richter schweige ich, über die Verteidiger ebenfalls, bis auf eine kleine Seitenbemerkung: Nicht alle von ihnen waren fähig oder willens, den Angeklagten die Hauptrolle zu überlassen – nicht so Christian. Selten, wenn überhaupt je habe ich einen Strafverteidiger vor Gericht gesehen, der einerseits so bescheiden und zugleich so gut vorbereitet in die Verhandlung kam und so effektiv verteidigte wie Christian. Bescheiden heißt nicht unterwürfig, gefügig, nachgiebig, kompromissbereit oder sonst wie kämpferische Qualitäten vermissen lassend – es bedeutet Anstand und zivile Umgangsformen, im Strafprozess aber vor allem: stets den Angeklagten als Hauptperson betrachten und behandeln, ihm beziehungsweise ihr eine Stimme geben, dabei als Verteidiger keiner konfrontativen Auseinandersetzung aus dem Wege gehend, um dieses Recht der Angeklagten durchzusetzen. Denn das Recht, ich sagte es, will und muss erkämpft werden – und das Vorbild eines solchen Kämpfers war Christian.
Ein sanfter Mensch
Als ein „sanfter Wüterich“ wurde Christian in einem Nachruf bezeichnet – das war sicherlich nicht böse oder hämisch, vielleicht sogar anerkennend gemeint. An dieser Benennung ist jedoch nur das Adjektiv zutreffend: Christian war tatsächlich ein sanfter Mensch. Sanft, heiter, gelassen, freundlich, unprätentiös.
Es gibt viele Menschen, die einige oder gar alle diese Eigenschaften besitzen – kann ein solcher Mensch aber zugleich ein Wüterich sein? Unter „Wüterich“ findet man in den Lexika Synonyme wie Berserker, Jähzorniger, Rasender und Schlimmeres – so weit ab von Christian, dass weitere Erläuterungen sich erübrigen. Ich spreche hier nur darüber, weil der Erfinder des „sanften Wüterichs“ offenbar ein Paradox benennen wollte und mit dieser missglückten Charakterisierung von Christian tatsächlich ein Körnchen Wahrheit freilegte: die Verbindung widersprüchlicher, ja gegensätzlicher Eigenschaften in einer Person.
Wie soll man sich denn wohl einen Wüterich vorstellen, der sanftmütig ist? Das wäre so etwas wie ein schwarzer Schimmel. Christian war durchaus kein schwarzer Schimmel – aber vielleicht war er doch ein grauer Schimmel – ein sanfter Radikaler. Was meint das?
Es gibt Ideen, denen zufolge die Welt durch Sanftmut verbessert werden kann. Christian hing keiner solchen Idee an. Er war ein Mann der Praxis – Praxis verstanden als eine Haltung, die den Sinn menschlicher Tätigkeit nicht in endlosem Reflektieren, Debattieren, Formulieren von Gedanken sieht, sondern in der Umgestaltung der gesellschaftlichen Wirklichkeit für und durch den Menschen – Christian war mit dieser Haltung stets näher bei den Menschen (und vielleicht ja sogar auch bei Marx) als all die vielen eifrigen Theoretiker, die mit ihren haarspalterischen Ableitungen des „richtigen“ revolutionären Subjekts der Gesellschaft eher ein gutes Beispiel für den Marx’schen Begriff der „unproduktiven Arbeit“ boten.
Christian Ströbele ist tot
Ein wahrer Sozialarbeiter
Christian war ein wahrer Sozialarbeiter – wenn dieser Begriff nicht bereits für eine spezielle Berufstätigkeit im Sektor der gesellschaftlich eher randständigen Bevölkerung vergeben wäre, dann würde Christian Ströbele als hervorstechendes Beispiel für Sozialarbeit gelten, einer Sozialarbeit eigener, eigensinniger Art – als die Tätigkeit der fantasievollen, erfindungsreichen und damit auch experimentellen Gestaltung und Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, unter denen auch in einer etablierten demokratischen Ordnung die Selbstbestimmung und Würde jedes Menschen täglich neu erkämpft werden muss.
Es geht hier nicht um Klassenkampf, um den Kampf einer Klasse gegen die andere – aber es geht schon um Kampf, um den Kampf gegen die Trägheit, die Arroganz, die Selbstgerechtigkeit, die Dummheit etablierter Macht. Eine berühmte Definition von Macht lautet: Macht ist das Privileg, nicht lernen zu müssen. Der Kampf gegen dieses Privileg war sein Kampf. Kein Wunder, dass Christian nach den Erfahrungen als Anwalt, insbesondere als Strafverteidiger, der Sphäre der Politik nicht mehr ausweichen konnte.
Politische Macht um die Welt zu verändern
Und so begann er Ende der 1980er Jahre sich in die Politik einzumischen. Als Anwalt hatte er seinen politisch engagierten, radikalen, häufig irregeleiteten Mandanten ermöglicht, ihre politischen Ideen selbst öffentlich zu verteidigen. In dem von ihm betretenen Feld der Politik, in dem bekanntlich mit härtesten Bandagen gekämpft wird, will er nicht so sehr selbst gehört werden, denn anders als seine radikalen Mandanten aus der linken Szene oder als der eine oder andere Strafverteidiger-Kollege liegt ihm nicht viel daran, durch rhetorischen Glanz aufzufallen. Ihm geht es um Politik als die Sphäre, in der zunächst noch unterschwellige Möglichkeiten gesellschaftlicher Veränderung durch fantasiereiches Eingreifen, durch Praxis, in politische Macht überführt werden, mit deren Besitz man die Welt verändern kann.
Die Teilnahme an der Verwaltung und Erhaltung der bestehenden Macht- und Herrschaftsverhältnisse war seine Sache nie. Als Politiker verkörperte er eine ungewöhnliche Verbindung von ziemlich unterschiedlichen Eigenschaften: Er verband Eigensinn, der nicht mit Halsstarrigkeit oder Starrköpfigkeit verwechselt werden darf, denn Eigensinn bedeutet die Fähigkeit, den eigenen Erfahrungen einen neuen, ganz eigenen Sinn zu geben und sie dadurch zu ändern – Eigensinn also, Freundlichkeit und Sanftheit, gepaart mit sozialer Fantasie, Experimentierfreude, Beharrlichkeit, Unverzagtheit und der gar nicht hoch genug einzuschätzenden Fähigkeit, für seine Projekte Verbündete zu finden. Nur so viel hier zu der politischen Qualität seiner Freundlichkeit. Und doch blieb und bleibt Christian ein Solitär. Er verkörperte die Fähigkeit zu praktischer Solidarität, doch er machte sich mit niemandem gemein.
Er änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren
In einem Nachruf auf Christian unter der Überschrift „Der Berufsrebell“ lese ich, dass er nie aufgehört habe „sich aufzubäumen gegen Dinge, die nicht zu ändern waren“ – nein, er bäumte sich nicht auf, und schon gar nicht war er ein „Berufsrebell“. Wenn man ihm schon eine Berufsbezeichnung anheften will, dann, wie bereits erwähnt: ein Sozialarbeiter in den Gefilden der Politik. Um es in einem erneuten Paradox auszudrücken: Er änderte die Dinge, die nicht zu ändern waren – Dinge, die nicht zu ändern sind, haben diese Eigenschaft zu einem großen Teil ja deswegen, weil alle glauben, dass sie nicht zu ändern sind. Und Christians Eigensinn konnte zwar keine Berge versetzen, aber doch Dinge ändern, die als unabänderlich galten, zum Beispiel, indem er durch seine Aktivität
– im damaligen West-Berlin eine rot-grüne Koalition möglich machte, erst die zweite ihrer Art zu jener Zeit;
– eine überregionale linke Tageszeitung aus der Taufe heben konnte, die gegen alle Widrigkeiten nun schon über 40 Jahre existiert und die, ebenfalls dank entscheidender Initiative von Christian, durch die Gründung einer Genossenschaft aus Lesern und Mitarbeitern gegen allfällige Übernahme durch kapitalkräftige Medienunternehmen immunisiert worden ist, und – ebenso wichtig und ebenso nachhaltig, ja vielleicht sogar das wichtigste seiner politischen Vermächtnisse, indem er
– dem Status eines deutschen Bundestagsabgeordneten eine neue Dimension hinzufügte: Er war keineswegs der einzige Bundestagsabgeordnete mit Direktmandat, auch nicht der einzige, der ein solches Mandat über insgesamt vier Legislaturperioden bis zum endgültigen frei gewählten Ausstieg aus der Parlamentspolitik erringen konnte. Nein, das Besondere, Einmalige, Beispiellose, Beispielhafte ist der Charakter, den Christian seinem Direktmandat eingeprägt hat.
Das Mandat, das die Partei ihm verweigert hatte, holte er sich nicht gegen, aber ohne die Partei – als „direkt“, das heißt ohne Vermittlung der Partei volksgewählter Abgeordneter. Und das in einer Partei, die zuvor nie ein Direktmandat errungen hatte und in den folgenden fünf Wahlperioden auch nicht erringen konnte – er war der erste und der einzige seiner Partei, der Grünen, und er war der alleinige im Bundestag, der dieses Mandat – ohne, fast möchte man sagen: gegen den Willen seiner Partei errungen hatte. Es beruhte auf dem Charisma seiner Person, und diese Einmaligkeit prägte auch den Charakter dieses Wahlkreises. Hier waren die Menschen nicht bloß Bevölkerung, Wahlberechtigte – hier waren sie Volk im Sinne der Demokratie – ein wenig kratzbürstig, aufmüpfig, kritisch, aber engagiert, solidarisch, friedlich – all das verkörpert in der Person ihres Abgeordneten.
Welcher Abgeordnete außer ihm hätte, hat den Versuch gewagt, gegen die überwältigende, zum Teil aggressiv gegen ihn gerichtete Stimmung im Plenum des Bundestags als Einziger eine parlamentarische Debatte über Deutschlands Beteiligung am Kosovo-Krieg zu erzwingen?
Es erfordert Mut, den Vielen eine Zumutung zu sein.
Die genuin politische Aufgabe des Abgeordneten
Drei Mal ist er nach Afghanistan gereist, um sich persönlich ein Bild von der Situation am Hindukusch zu machen, an dem nach der offiziellen Doktrin auch die Sicherheit Deutschlands vereidigt wurde. Vielleicht war das ja sogar so – aber die heutige Erkenntnis, dass man mit militärischen Kampfmitteln kein Land in den Kreis demokratischer Staaten führen kann, besaß Christian bereits seit Anbeginn des militärischen Engagements der Nato Ende 2001.
Er tat, was in einem solchen Fall zu allererst die genuin politische Aufgabe der Regierungen ist, aber gewiss auch der Parlamentsabgeordneten, die das Handeln der Regierung legitimieren und kontrollieren sollen: Er reiste in das Land und sprach dort durch Vermittlung in Deutschland lebender Afghaninnen und Afghanen mit den unterschiedlichsten Personen einschließlich Angehöriger der Taliban – ahnte das Desaster und erhob seine Stimme des Zweifelns an den tapferen Gewissheiten der großen Mehrheit.
Und nun, da der Krieg Europa erreicht hat und die Ukraine sich gegen den russischen Krieg verteidigt, reicht es der deutschen Regierung und der Bundestagsmehrheit wiederum nicht, die Dinge in ihrer offen zutage liegenden Wirklichkeit zu benennen, nämlich: einem angegriffenen Staat Hilfe bei dessen Selbstverteidigung zu leisten – nein, dieses Mal wird unsere Freiheit in der Ukraine verteidigt, obwohl wir weder angegriffen worden sind noch der angegriffenen Ukraine als Bündnispartner beistehen (können). Die politisch-moralische Überhöhung militärischer Aktionen soll ja vielleicht die Destruktivität jeglichen militärischen Handelns in ein sanfteres Licht rücken – tatsächlich ist sie ein Vehikel für die Fortsetzung der Politik mit militärischen Mitteln.
Die Stimme eines Skeptikers
Auch hier, lange nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag und bereits von seiner Krankheit gezeichnet, erhebt Christian seine Stimme. Es ist nicht die Stimme eines Pazifisten, sondern die eines Skeptikers, eines nüchternen politischen Praktikers, der, um eine erhellende Formulierung von Artur Schnitzler zu zitieren, sich weigert, Einsichten „aus dem Gebiet des Problematischen in dasjenige indiskutabler Gewissheit“ zu rücken.
Worin sah Christian eigentlich seine politische Mission?
Auf die Frage eines Journalisten, ob er nicht auch gerne mitregieren würde, antwortete er: „Nur wenn ich das, was ich wollte, hätte durchsetzen können“ – er hatte politischen Ehrgeiz, keinen persönlichen. Obwohl er, wie erwähnt, nicht weniger als vier Wahlperioden als direkt gewählter Abgeordneter diesen Wahlkreis vertrat, war er kein Berufspolitiker. Vor mehr als hundert Jahren hat Max Weber „Politik als Beruf“ als das Schicksal der modernen Massendemokratie diagnostiziert – und er hat recht behalten.
Auf Christians parlamentarische Tätigkeit trifft diese Diagnose jedoch nicht zu. Politik im und durch das Parlament war nicht sein Beruf – sie war aber auch nicht seine Berufung im Sinne des Auftrags einer inneren Stimme. Sie war nebst seiner anwaltlichen Tätigkeit die nächstliegende Gelegenheit, etwas zu ändern, Produkt seiner Unzufriedenheit mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, mit denen er sich nicht abfinden wollte. Wenn ich vorhin sagte, dass Christian im Grunde ein Sozialarbeiter war – einer, der eingreift, wann und wo durch sein Handeln untragbare Verhältnisse geändert, verbessert werden können –, so war er im Bundestag eine Art politischer Freiberufler im Kollektiv der grünen Bundestagsfraktion.
Denken wir nur an jene Mischung aus Selbstverständlichkeit und Kühnheit, die in seinem Moskauer Besuch von Edward Snowden zum Ausdruck kam: Es war die selbstverständlichste Sache der Welt, einen aussagewilligen Zeugen für schlimme Gesetzesbrüche zu laden und anzuhören – doch es bedurfte der Kühnheit von Christian, diese Selbstverständlichkeit zu erkennen, öffentlich auszusprechen und tatkräftig der Politik nahezubringen. Tatkraft – dieses etwas altmodisch klingende und so schwer in andere Sprachen zu übersetzende deutsche Wort hat in Christian seine lebendige Verkörperung gefunden.
Wie nennt man einen Solchen, wenn er gestorben ist, nicht mehr lebendig unter uns, mit uns ist? Er ist ein Großer – ja, ich sage ist. Denn jetzt, wo er in unserer Erinnerung bei uns ist, wird uns klar, dass die uns vertraute Selbstverständlichkeit von Christians Menschlichkeit, diese außergewöhnliche Verbindung von tatkräftiger und erfindungsreicher Hingabe an die Arbeit für gemeinsame Ziele, Wünsche, Hoffnungen – und seiner persönlichen Bescheidenheit, Freundlichkeit, Leichtigkeit jetzt, da er nicht mehr bei uns ist, als etwas wahrlich Seltenes und Großes erkennbar wird.
Wir verneigen uns vor ihm in Schmerz und Trauer, aber auch im Stolz darauf, dass wir ihm in seinem Leben nahe sein durften.
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