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Archiv-Artikel

Trauer an Stütze 120

AUS LATHEN Jennifer Neufend

Die Hermann-Kemper-Straße führt zu Äckern, auf denen Kartoffeln, Getreide oder Raps angebaut werden. Hermann Kemper war, das verrät das Straßenschild, der Erfinder der elektromagnetischen Schwebebahn. Hier in Lathen, einer 5.000-Seelen-Gemeinde im Landkreis Emsland, befindet sich die deutschlandweit einzige Transrapid-Versuchsanlage.

Dort, wo der Emsländer sonst gerne seine sonntägliche Fahrradtour unternimmt, ist ab Stütze 120 über 500 Meter weit nichts wie bisher. Am vergangenen Freitag kamen hier 23 Menschen ums Leben. Man vermutet menschliches Versagen, da sind sich der Bundesminister für Verkehr, Wolfgang Tiefensee, Landrat Herrmann Bröring, Staatsanwalt Alexander Retemeyer und der niedersächsische Innenminister Uwe Schünemann weitgehend einig.

„Wir ermitteln wegen fahrlässiger Tötung von 23 Menschen“, so Staatsanwalt Retemeyer aus Osnabrück. Verdächtige gebe es noch nicht. Experten untersuchten die Wrackteile sowie die Unfallstelle. Sobald diese Arbeiten abgeschlossen seien, werde das Gelände freigegeben, und der Eigentümer könne mit den Aufräumarbeiten beginnen. Retemeyer zum Ermittlungsstand: „Auf der Strecke gibt es keine Videoüberwachung, und es gibt keine technische Einrichtung, um von der Leitstelle zu sehen, wo sich der Werkstattwagen befindet.“ Alle Kommunikation laufe über Funk.

Bei ungefähr 200 km/h Geschwindigkeit, die der Transrapid zur Unglückszeit hatte, schien der kleine Werkstattwagen von zehn Metern Länge und 60 Tonnen Gewicht das hochmoderne Gefährt einfach längs aufgeschlitzt zu haben. Allmorgendlich säubert der Werkstattwagen die Bahn von Ästen und dergleichen, immer zur selben Zeit. Warum ist der Transrapid zur Messfahrt losgefahren? Das fragen sich zurzeit alle, ob Ermittler, Poltiker, Angehörige oder Beobachter.

Das vordere der drei Transrapid-Segmente ist beinahe vollkommen zerstört. An der Stelle, an der der Trümmerzug samt Werkstattwagen zum Halten kam, riecht es nach geschmolzenem Kunststoff. Überall liegen Teile, die auf das elektronische Innenleben des Transrapid schließen lassen. Wie Papier zerdrücktes Metall liegt unter und neben der Trasse verstreut. Dazwischen blaue, weiße, violette Schutzhandschuhe aus Gummi, gebrauchte Kaffee- und Wasserbecher.

Der Transrapid sei eine „geniale Technologie“, sagt der niedersächsische Kultusminister Bernd Busemann. Er kommt aus Dörpen und ist Landkreis-Abgeordneter der Region. „Ich setze alle Hoffnung darauf, dass der Betrieb der Teststrecke weitergeht.“ Im März des nächsten Jahres solle der Transrapid 09 auf die Spur gesetzt werden. Neben der Trauer und dem Schock ist auch die Angst zu spüren. Was geschieht mit der Teststrecke und dem Transrapid?

Die Hinterbliebenen der 23 Opfer haben die Möglichkeit, an der Unfallstelle Abschied zu nehmen. Sie legen Blumen ab und zünden Kerzen an.

„Die eigentliche Trauer beginnt jetzt erst“, erklärt der Notfallseelsorger Pfarrer Ludger Pietruschka seine Arbeit und die seiner Kollegen, Pastor Thomas Gotthilf und Bärbel Wempel. „Zunächst kümmern wir uns um die Angehörigen und dann – fast parallel – um die zurückkehrenden Rettungskräfte.“ Wut, Tränen und Schweigen, alles werde akzeptiert. „Wir vor Ort sind als seelische Schutzschilde da, versuchen begleitend zu stabilisieren.“

Um den Helfern, Überlebenden und Angehörigen dabei zu helfen, ist am Mittwoch um elf Uhr ein ökumenischer Trauer-Gottesdienst in der katholischen Kirche in Lathen geplant. Erwartet werden neben einigen niedersächsischen Ministern auch Ministerpräsident Christian Wulff und Bundesverkehrsminister Tiefensee. Sie könnten auf der Hermann-Kemper-Straße fahren, an der Transrapid-Trasse entlang.