Training ohne Gewinner-Stress: Das Leben ist kein grader Fluss

Ulrike Schleising tritt Mitte Juli bei den Weltspielen für geistig Behinderte und psychisch Kranke an. Die 48-Jährige trainiert an der Eider.

Auf dem Weg zu den Olympischen Spielen: Ulrike Schleising trainiert mit ihrer Gruppe auf der Eider . Foto:

EIDERSTEDT taz | Long Beach: Endloser weißer Strand, auf der einen Seite begrenzt von den Schaumkronen, die auf den Wellen tanzen, auf der anderen ragen die Hochhäuser von Los Angeles empor. Long Beach: Dort, im Marine Stadion, wird Ulrike Schleising Mitte Juli um eine Medaille bei den Special Olympics kämpfen.

Noch aber steht Schleising in Achterwehr am Ufer der Eider, unter den Füßen feuchtes Gras, vor sich das lehmbraune Wasser des Flusses, der an dieser Stelle nur wenige Meter breit ist. Eine Entenmutter schwimmt vorbei, gefolgt von einer Reihe braun-plustriger Küken. Long Beach, der Wettbewerb: Ulrike Schleising verzieht ein wenig das Gesicht, wenn sie daran denkt: „Ich muss mich da rantasten“, sagt die 48-Jährige. Eines ist klar: Sie nimmt nicht teil, um zu gewinnen.

Schleising trägt einen dicken, blauen Strickpullover, über den sie nun eine Schwimmweste schnallt – nein, wie eine Leistungssportlerin, gar eine Olympionikin sieht sie nicht aus. Aber die Kielerin, zweifache Mutter, hauptberuflich im Gartenbau tätig, gehört zu der Delegation, die zwischen 25. Juli und 2. August Deutschland bei den Weltspielen 2015 in Los Angeles vertritt. Ein Sportfest der Nationen und großen Zahlen: Fast 7.000 Athleten aus 177 Ländern treten in 25 Sportarten gegeneinander an. Ulrike Schleising wird paddeln, 100 Meter allein, vielleicht auch 500 Meter im Zweier.

Mit ihrer Teamkollegin Erika Suhk holt Schleising das Boot aus dem Schuppen, ein garagengroßer Raum, der ausgefüllt ist durch ein deckenhohes Regal, in dem mehrere Kunststoffboote lagern. Schwimmwesten und Paddel stapeln sich in den Ecken, es riecht nach Gummi und muffigem Stoff. Der Raum diente früher der Freiwilligen Feuerwehr Achterwehr als Geräteschuppen, seit Anfang der 1990er Jahre nutzen ihn die Paddler.

Treibende Kraft, Trainer und Organisator der Gruppe ist Holger Suhk, Erikas Mann: „Holger hat uns alle da reingezogen“, sagt Ulrike Schleising. „Er hat uns sein Hobby gegeben, er opfert seine Freizeit für uns.“ Auch Holger Suhk fliegt mit nach Los Angeles, als Betreuer, und er strahlt, wenn er davon spricht: „Das ist eine tolle Chance für den Behindertensport. Wir sind Teil von etwas ganz Großem.“

Dabei sein ist alles: Bei den Olympischen Spielen und auch bei ihrem Pendant für Menschen mit Behinderungen, den Paralympics, klingt der Satz inzwischen fast albern. Dafür geht es in vielen Sportarten um zu viel Geld und in den Randsportarten zumindest um die nationale Ehre.

Für die Special Olympics gelten andere Regeln. Nicht unbedingt die Fittesten, Schnellsten, Stärksten werden zu den Wettkämpfen geschickt. Wer an den Spielen teilnehmen will, muss mindestens 16 Jahre alt sein, die Mitgliedschaft in einem Landesverband der Dachorganisation Special Olympics Deutschland (SOD) nachweisen und eine geistige Behinderung oder psychische Störung haben. Wer teamfähig ist und an nationalen Spielen zur Qualifikation teilgenommen hat, hat gute Chancen.

Am Ende gilt nicht die Bestenauslese, sondern das Rotationsprinzip: Wer bereits einmal bei internationalen Spielen angetreten ist, scheidet aus, damit andere dürfen. Das passierte in diesem Jahr Kai Sparenborg, einem von Schleisings Teamkollegen. Er gehörte bei den nationalen Meisterschaften zu den schnelleren Teilnehmern, fährt aber nicht mit nach Los Angeles: „Das wäre ja sonst nicht fair“, sagt er.

Ulrike Schleising und Erika Suhk wuchten das Boot zum Steg und lassen es ins braune Wasser gleiten. Es ist kühl, wie so oft in diesem Sommer, aber immerhin regnet es nicht. Schleising wäre an diesem Tag fast zu Hause geblieben, sie fühlt sich nicht gut. Vielleicht ist auch Nervosität vor der Reise dabei: Es ist ihr erster Flug, dazu kommen der ganze Trubel, die vielen fremden Menschen, die fremde Sprache. „Wenn ich etwas nicht kenne, dann ist das schwierig, dann kommt die Panik“, sagt sie.

Aber im Boot beginnt sie sich zu entspannen. Sie drehen eine Runde, paddeln an Holger Suhk und den anderen Mitgliedern der Gruppe vorbei und allmählich hellt Schleisings Miene sich auf. Paddeln sei für sie ein Ausgleich, sagt sie, ein Gegengewicht nach der Arbeit im Garten des Handwerkerhofs „Fecit“, einer Einrichtung für Menschen mit Behinderung, in der auch die anderen tätig sind.

Der Sport auf dem Wasser ihr hilft, den Alltag hinter sich zu lassen. „Man hat eine gerade Strecke vor sich, schaut auf den Punkt, den man erreichen will – und kommt dann genau dort hin“, sagt sie. Im Leben klappt das nicht immer so. Sie stammt aus Westfalen, wurde auf einem Bauernhof groß. Weil sie zarter, sensibler war als ihre Geschwister, schickten die Eltern sie auf eine Waldorfschule. Schon als Kind und Jugendliche zog sie sich oft zurück. Am Ende der Schulzeit stand ein erster Aufenthalt in einer Klinik.

Immer wieder verbrachte sie Zeit in psychiatrischen Einrichtungen, heiratete, „im Grunde bloß, um da rauszukommen“. Aber die Ehe hielt nicht und Schleising zog wieder in eine betreute Wohngruppe. Ihre zwei Kinder wuchsen getrennt von ihr auf. Nach langem Schweigen hat sie weder Kontakt zu den beiden.

Ihre Tochter ist inzwischen selbst Mutter: „Also bin ich schon Oma“, sagt die Olympiasportlerin. Heute lebt sie in einer eigenen Wohnung, fährt selbstständig morgens zur Arbeit in den Handwerkerhof und auch wieder zurück. „Ich habe mehr geschafft, als ich selbst gedacht habe“, sagt sie. „Dafür muss man froh und dankbar sein.“

Ein wenig hat auch das Paddeln geholfen, davon ist Trainer Holger Suhk überzeugt. 1985 gründete er die Gruppe. Alles begann mit einer gemeinsamen Ferientour nach Dänemark. Daraus wurde ein regelmäßiges Training. Die fecit-Gruppe arbeitet auch mit dem Kieler Kanu-Klub zusammen. Sie paddeln die Saison gemeinsam an und ab. „Gelebte Inklusion“, sagt Suhk. Am vergangenen Wochenende, zum Abschluss der Kieler Woche, transportierten die Fecit-Paddler eine kleine Schwester der olympischen Flamme vom Segelhafen in Schilksee – dem olympischen Dorf von 1972 – ins Stadtzentrum.

Kiel war Station eines bundesweiten „Inklusionsfackellaufes“ der Initiative „Netzwerk Inklusion Deutschland“, mit dem für mehr Inklusion geworben werden sollte. Würde Kiel zusammen mit Hamburg Austragungsort der Olympischen Spiele werden, könnten vielleicht Behinderte und Nicht-Behinderte gemeinsam antreten. „Das wäre doch was“, sagt Suhk.

Seine Gruppe war schon 2012 bei den Special Olympics in München dabei und holte Medaillen. Wobei das nicht so schwierig ist: Es gibt viele Wettbewerbe, damit sind viele Preise zu verteilen – ein bisschen so, als sollte am Ende wirklich keiner traurig nach Hause gehen müssen. So sagt Suhk denn auch: „Leistungssport ist nur das Nebenprodukt. Es geht um Spaß und das Miteinander.“

Mit einigen kräftigen Paddelschlägen bringen Erika Suhk und Ulrike Schleising ihr Boot zurück an den Steg. Wie schnell sie waren? Die beiden Frauen wechseln ratlose Blicke. Auch die Zeit, mit der sie sich bei den deutschen Meisterschaften für Los Angeles qualifizierten, wissen sie nicht mehr. „Ulrike wollte nicht erste sein, ich nicht letzte – und das hat geklappt“, sagt Erika Suhk. Und mit etwas Glück klappt das in Long Beach wieder.

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