Tourismus im Wohngebiet: Wer lebt schon gern im Partyland
Die Anwohner der Wilhelmstraße in Mitte gründen eine Bürgerinitiative gegen die Ferienwohnisierung ihrer Nachbarschaft - die viel Ärger und Anonymität mit sich bringt. Auch andernorts boomt das Geschäft mit der Wohnungsvermietung an Touristen.
Herr S. hat aufgegeben. Zum Jahreswechsel ist er aus der Wilhelmstraße 75 ausgezogen, weil er es einfach nicht mehr ausgehalten hat: Jedes Wochenende feierten immer neue Leute links und rechts von ihm, über und unter seiner Wohnung laute Partys. Als er hier einzog, war dies ein normales Mietshaus. Doch inzwischen haben viele Mieter wie Herr S. das Gefühl, in einem Herbergsbetrieb zu wohnen: Immer mehr Wohnungen in dem Plattenbauquartier werden als Ferienapartments vermietet. "Das ist wie Leben auf einem Bahnhof", sagt ein Anwohner.
Es fing vor fünf Jahren an, erzählt Daniel Dagan. Damals hatte die Wohnungsbaugesellschaft Mitte (WBM) die Blöcke an der Wilhelmstraße mit insgesamt etwa 900 Wohnungen an die B.Ä.R. Grundstücksgesellschaft verkauft. Und die fand eine äußerst lukrative Lösung für leer stehende Wohnungen. "Erst waren es nur zwei oder drei Wohnungen in meinem Aufgang, die als Ferienwohnungen angeboten wurden", berichtet Dagan. "Aber das wurde zum System - wie ein Hotelbetrieb." Der israelische Journalist lebt seit zehn Jahren hier und registriert ein planmäßiges Vorgehen der Eigentümer, die zudem Ende letzten Jahres saftige Mieterhöhungsforderungen an die Anwohner verschickten. "Sie vertreiben uns von Nord nach Süd, von der Behrenstraße bis zur Voßstraße. In manchen Häusern an der Behrenstraße sind inzwischen bis zu 80 Prozent der Wohnungen als Ferienwohnungen vermietet."
Für Touristen ist es ein verlockendes Angebot: Die zentrale Lage nahe dem Brandenburger Tor, etliche Sehenswürdigkeiten in Laufweite, eine komplett ausgestattete Wohnung für 80 bis 100 Euro pro Nacht, die man zu zweit oder zu dritt anmietet und in der auch mal zehn oder mehr Leute übernachten und feiern. Für die Anwohner ist es dagegen Stress rund um die Uhr: Ständiges Kommen und Gehen, nächtliches Klingeln, weil Touristen ihr Quartier nicht finden, tagsüber Putzkolonnen, die die Fahrstühle und Gänge blockieren, Industriestaubsauger, Müllprobleme - und vor allem sich auflösende Nachbarschaften. "Neben mir wohnt ständig jemand anders, den ich überhaupt nicht kenne, für drei Tage oder eine Woche. Ich möchte einfach normale nachbarschaftliche Verhältnisse", sagt ein entnervter Anwohner.
Die Wilhelmstraße ist zwar der spektakulärste, aber bei weitem kein Einzelfall. Ferienwohnungen, zumal in den Innenstadtbezirken, sind für Eigentümer ein einträgliches Geschäft: Die Touristenzahlen nehmen stetig zu, und Touristen wollen mittendrin sein im Geschehen. Über Internetsuchmaschinen findet man auf Anhieb hunderte Ferienwohnungen in Mitte, Prenzlauer Berg oder Friedrichshain.
Vor allem aber ist die Vermietung von Ferienwohnungen ein Geschäft, das niemand kontrollieren kann. Die Betreiber nutzen eine rechtliche Grauzone: Anfang des neuen Jahrtausends hatte der Senat das Verbot der Zweckentfremdung von Wohnungen aufgehoben, weil er den Wohnungsmarkt als "entspannt" beurteilte - seitdem sind gewerbliche Nutzungen legal. Den Bezirken sind damit die Hände gebunden.
Ephraim Gothe, SPD-Stadtrat für Stadtentwicklung in Mitte, sieht diese Entwicklung mit Sorge. "Es ist ein Problem, wenn ganze Blöcke für Tourismus genutzt werden und die Mieter leiden. Ich appelliere an den Eigentümer der Wilhelmstraße, die Ferienvermietungen wieder aufzugeben zugunsten einer normalen Wohnnutzung." Zudem will Gothe gern wissen, ob der Eigentümer gedenkt, die Häuser langfristig zu halten - denn längst machen Gerüchte über den Abriss der Plattenbauten an der Wilhelmstraße die Runde.
Der Stadtrat sieht im Boom der Vermietung als Ferienwohnung generell ein wohnungspolitisches Problem: "Hier wird preiswerter Wohnraum in zentraler Lage vernichtet." Selbst mit öffentlichen Mitteln sanierte Wohnungen werden inzwischen auf dem Ferienmarkt vertickert. Auf eigene Kosten hat der Bezirk jetzt die Mieterberatungsgesellschaft Asum beauftragt, die Anwohner zu unterstützen und zwischen ihnen und dem Eigentümer zu vermitteln.
Auch der Hotel- und Gaststättenverband Berlin (Dehoga) ist alarmiert. Nach Schätzungen des Verbands werden in der Hauptstadt über 10.000 Wohnungen als Ferienapartments angeboten, mit rund einer Million Übernachtungen jährlich - ein einträgliches Geschäft und ein unkontrollierter Markt. Hauptgeschäftsführer Thomas Lengfelder: "Es geht uns nicht um den Mieter, der im Sommer mal für drei Wochen seine Wohnung anbietet. Aber inzwischen wird das sehr professionell betrieben. Es gibt Vermieter mit mehr als 200 Ferienwohnungen im Angebot."
Sorgen bereitet dem Verband nicht nur die Konkurrenz, sondern vor allem die rechtliche Grauzone mit den damit verbundenen Gefahren. Zwar gilt in Berlin die Hotelverordnung für Betriebe ab 12 Betten aufwärts; Ferienwohnungen sind aber davon ausdrücklich ausgenommen. Lengfelder: "Ferienwohnungen wurden vom Gesetzgeber als nichtprofessioneller Betrieb interpretiert." Man habe dabei wohl eher an den kleinen Familienbetrieb an der Ostsee gedacht. Der Verband sieht steuerliche, sicherheitstechnische und hygienische Probleme, die er bereits in einer Dokumentation dargelegt hat: Ob die Vermietung als Gewerbe deklariert wird, ist unklar, es gibt keine Fluchtwege, keine Hygienestandards, dafür oftmals ungelöste Müllprobleme, Lärmbeschwerden und Ärger mit Anwohnern.
Die Wilhelmstraße ist dafür ein klassisches Beispiel, sagt Dehoga-Geschäftsführer Lengsfeld: "Es gibt Berge von Müll, aber fast keine Fluchtwege. Wohnungen werden in großem Maßstab umgenutzt, und es ist nicht davon auszugehen, dass sie jemals wieder als normale Wohnungen vermietet werden." Der Verband hat eine Studie zum Thema in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse in Kürze öffentlich vorgestellt werden sollen.
Hartmann Vetter, Geschäftsführer des Berliner Mietervereins, schätzt die Situation und Handlungsmöglichkeiten der Mieter als schwierig ein. "Die Ferienwohnungen werden pauschal vermietet und sind oft überbelegt, niemand kontrolliert, wie viele wirklich dort wohnen. Für die Anwohner ist das mit großen Belastungen und einem Gefühl der Unsicherheit verbunden. Aber Mietminderungen sind pauschal nicht möglich, da müsste jede Störung im Einzelnen dokumentiert werden." Vetter sieht das Problem vor allem in der Aufhebung des Zweckentfremdungsverbots durch den Berliner Senat.
Die Anwohner der Wilhelmstraße wollen die Situation nicht länger hinnehmen. Vorige Woche haben sie die Bürgerinitiative Wilhelmstraße gegründet, und nun suchen sie den Weg in die Öffentlichkeit. Das kann allerdings auch nach hinten losgehen. So brachte Spiegel TV das Kunststück fertig, mit geschickten Interviewschnipselchen ein Bild der Fremdenfeindlichkeit zu suggerieren: Anwohner der Wilhelmstraße sind demnach Alt-Ossis und ausländerfeindlich. Daniel Dagan, der in Kairo geborene Israeli, Muttersprache Französisch, war fassungslos angesichts des Filmchens. "Wir sind nicht ausländerfeindlich, wir sind selbst Ausländer. Wir haben hier ein Schreiben für die Touristen verfasst, um die Situation zu erklären. In 15 Sprachen. Wir brauchten dafür nicht mal Übersetzer, denn in den Häusern leben ja die Muttersprachler."
Die Zeiten, als hier DDR-Prominente wie Kati Witt oder Günter Schabowski wohnten, sind längst vorbei, ebenso wie die erste Nachwendezeit, als hier Größen wie Angela Merkel oder die Treuhandchefin Birgit Breuel in den Plattenbauten lebten. Die Bewohner sind inzwischen eine bunte internationale Mischung, und sie wollen hier bleiben. Deshalb haben sie jetzt eine Bürgerinitiative gegründet, um sich besser wehren zu können. Dagan: "Dies ist ein wichtiger historischer Ort. Wir möchten nicht, dass die Anwohner verdrängt werden und nur noch Touristen- und Luxusapartments bleiben." Der Eigentümer verweigert sich seit Monaten einer Stellungnahme.
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