Tour de France-Popularität: Wir sind wieder Helden
Das Radsport-Ereignis funktioniert - trotz alle Doping-Enthüllungen: Die Sender übertragen meinst unkritisch. Die Quote stimmt. Warum die Tour so populär bleibt.
Das Blut fließt, die Knochen brechen und ein junger deutscher Profi müht sich mit Schaum vor dem Mund zum Etappensieg. Ein Kasache mit zwei frisch genähten Knien lässt sich von einem Deutschen mit angeknackstem Steißbein die Berge hinaufziehen und Reuetäter Erik Zabel scheint immer noch zu grinsen, weil er es tatsächlich geschafft hat, wieder einmal ins Grüne Trikot zu fahren. Nicht wenige freuen sich mit ihm. Die Tour ist eine Woche lang über flaches Land gekrochen. Mit den ersten Hügeln hat sie wieder die Herzen der deutschen Sportnation erobert. ARD und ZDF machen weiter brav Randnotizen zum Thema Doping und die Reporter lassen ihrer Freude über die Faszination des Radsports freien Lauf. Dürfen die das überhaupt? War der Profizirkus nicht gerade noch in der Krise?
Gestern radelte das Peloton über den Iseran-Pass auf 2.770 Meter Höhe, den höchsten Punkt der Tour de France. Noch vor zwei Wochen waren sich nicht wenige sicher, dass man da, ohne gedopt zu haben, gar nicht hochfahren kann. Heute sind die Skeptiker von gestern bereit, zu glauben, was Hans-Michael Holczer, der Teamchef der deutschen Renngruppe Gerolsteiner unwidersprochen in die Mikrofone der Öffentlich-rechtlichen salbadern darf: "Ich vertraue in die Maßnahmen der UCI gegen Doping." Ausgerechnet die UCI, jener Radsportweltverband, der jahrelang geduldet hat, was die Teams alles so veranstaltet haben, um in den Ranglisten möglichst weit oben zu stehen, wird als Anti-Doping-Organisation vorgestellt. Holczer: "So ein Kontrollsystem gibt es in keiner anderen Sportart." Ja, ja.
Aber interessiert das überhaupt noch jemanden? Der Teamchef des ZDF bei dieser Frankreichrundfahrt, Peter Kaadtmann berichtete nach den ersten Etappen von entsetzten Anrufern, die sich darüber beschwert haben, dass viel zu viel über das große Manipulieren berichtet würde. Spartensender Eurosport, schon immer bekannt für das gnaden- und kritiklose Absenden der erstandenen Übertragungsrechte, freute sich über eine erklecklichen Zuschaeurzuwachs. Viele sind inzwischen zurückgekehrt zu ARD und ZDF, seit auch dort berichtet wird wie in den guten alten Epo-Tagen der Ullrich-Armstrong-Epoche. Ein neue Epoche des Radsports wurde eingeläutet, die mit dem 24-jährigen, blitzsauberen Linus Gerdemann vom selbst ernannten Anti-Doping-Rennstall T-Mobile ein bis über beide Ohren grinsendes neues Gesicht hat. Da fährt ein deutscher Nobody das Rennen seines Lebens und - schwupp - gewinnt der Radsport seine Glaubwürdigkeit zurück. 2,44 Millionen Zuschauer schalteten sich am Tag nach Gerdemanns Kraftakt zur Tourübertragung ein. Der Marktanteil der Livesendung stieg auf 21 Prozent. Zu Rundfahrtbeginn waren es gerade einmal sechs Prozent.
Das Ereignis funktioniert wieder. Sogar ein sinistrer Geselle wie der Kasache Alexander Winokurow darf sich von den Fans am Straßenrand und vor den Fernsehgeräten als Held feiern lassen, weil er sich mit lädierten Knien durch die Berge quält. Das Blut, das er am Donnerstag vergossen hat klebt noch immer an den Fernsehgeräten und zeigt genauso wie die ärztlichen Bulletins der Bruchpiloten Patrick Sinkewitz oder Stuart OGrady, worum es bei der Tour wirklich geht - um die Produktion von Helden. Ein solcher kann werden, wer schnell die Berge hochfährt; ein solcher kann aber auch werden, wer in einem Zustand aufs Rad steigt, in dem jeder Normalkranke nicht einmal das Bett verlassen würde. Übermenschlich muss das Ganze wirken. Insofern hat sich der Schaum vor Linus Gerdemanns breitem Mund ganz gut gemacht. 2003 radelte der Amerikaner Tyler Hamilton mit gebrochenem Schlüsselbein mehr als 3.000 Kilometer durch Frankreich und wurde am Ende Vierter im Gesamtklassement. Keiner wurde in jenem Jahr so gefeiert wie Hamilton. Es ist das Unvorstellbare an den Leistungen der Fahrer, die die Tour so populär machen. Und weil ARD oder ZDF tagsüber beinahe gar nichts anderes mehr senden als Bilder von der Tour, bleibt dem deutschen Publikum keine gebrochene Rippe, kein zerschmetterter Gesichstknochen, kein aufgeschürfter Oberschenkel verborgen.
Radsport wird als Kampfsport auf Asphalt inszeniert. Das kommt an - genauso wie die unzähligen Boxkämpfe, auf die beinahe kein großer Fernsehsender mehr in seinem Wochenendprogramm verzichten möchte. Dass die harten Männer eigentlich unter Generalverdacht stehen, dass die Tour de France eine Sportinszenierung ohne jeden sportlichen Wert - wie Wrestling etwa - sein könnte, das wird ausgeblendet, sobald die ersten Live-Bilder über die Bildschirme geschickt werden.
Der Radsport ist tot, es lebe der Radsport!
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