: Tour d'Europe
■ Hochkulturen & Christentum
Das Verhalten gegenüber Behinderten wird eindeutiger bestimmbar in den Hochkulturen, insbesondere beim Umgang mit (gehandikapten) Kindern.
Im Perserreich von Cyrus und Darius waren Aussetzungen gestattet; Kindesopfer fanden aus kultischen Anlässen statt. Obwohl dagegen die Bestimmungen des Talmud der Israeliten die Aussetzung verboten, verfügten sie doch, daß nur voll ausgetragene Kinder und diese erst vier Wochen nach der Geburt lebensberechtigt sind.
Platon und Aristoteles forderten, daß man gebrechliche Kinder beseitigen solle, um die Aufzucht des Idealmenschen zu fördern. Diese Überlegungen waren unter den Zeitgenossen weit verbreitet und wurden in Sparta bereits unter Lykurg (700 v. Chr.) und in Athen unter Solon (594 v. Chr.) Gesetz. Es wird berichtet, daß die Ammen in Athen die Pflicht hatten, gleich nach der Geburt zu bestimmen, ob das Neugeborene ein Kind sei oder nicht.
Auch im Römischen Reich schloß die unbedingte Gewalt des römischen Vaters über seine Kinder das Recht auf Aussetzung ein. Unter Romulus (um 750 v. Chr.) wurde diese Möglichkeit dahingehend eingeschränkt, daß erst fünf Nachbarn ihre Zustimmung geben mußten, ehe ein verstümmeltes Kind ausgesetzt werden durfte. Noch Seneca (1. Jahrhundert n. Chr.) wird nachgesagt, daß er das Ertränken von Kindern, insbesonders aber von mißgebildeten oder verkrüppelten Personen, nicht anders gewertet haben soll als das Ersäufen toller Hunde oder kranken Viehs. Erst unter Kaiser Konstantin wird im 4. Jahrhundert n. Chr. die Kindesaussetzung offiziell verboten.
Die Verbreitung des Christentums in Europa hat keineswegs zu einer sofortigen und grundlegenden Änderung dieser Praktiken geführt. Wie lange sie nachwirkten, zeigte sich an der Einschränkung, die das friesische Volksrecht im 9. Jahrhundert macht: „Nur noch die Mutter“ darf ein Neugeborenes straflos töten. Die Isländer behielten sich bei der Annahme des Christentums sogar ausdrücklich das Recht auf Kindesaussetzung vor. Während es allgemein im christlichen Mittelalter nur noch gestattet war, solche Kinder zu töten, die nicht „dem Antlitz Gottes“ entsprachen, war es bei den christlichen Slawen noch im 17. Jahrhundert üblich, Schwächliche und Alte zu beseitigen.
Viele Kulturen haben sich der behinderten und kranken Personen nicht entledigt. Sie haben aber deren sozialen Status so verändert, daß man nur in begrenzten, geregelten Kontakt mit ihnen zu treten brauchte: sie wurden abgesondert. Betrachtet man die Praktiken räumlichen Ausschlusses in unseren Tagen, so ist auffällig, daß viele Einrichtungen für Behinderte am Stadtrand, im Grünen, angesiedelt sind. Aber dabei bleibt es nicht. Die zynische Bemerkung derer, die auch im Grünen wohnen, „was haben die (Behinderten, Verf.) denn schon davon“ (vom Grünen, Verf.) demaskiert eine dem Rassismus verwandte Einstellung, die keinen Lebensraum für Behinderte mehr läßt und unausgesprochen die Vernichtung fordert.
Für eine große Zahl körperlich und/oder geistig schwerer Behinderter bleibt nach wie vor, nach dem Leben im Elternhaus, nur die Geriatrie oder ein trostloser Trakt in den psychiatrischen Anstalten.
aus: Andrea Buch, Birgit Heinicke: An den Rand gedrängt (Rororo 1980)
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