■ Tour d' Europe: Mein wunderbares Wahlsystem
Um dem Souverän, vulgo Volk, einen der „Volksherrschaft“ angemessenen Einfluß auf die Politik zu ermöglichen, haben sich Europas Staaten allerlei Methoden ausgedacht, dem angeblichen „Wählerwillen“ eine entsprechende Zusammensetzung der Volksvertretungen folgen zu lassen.
Das einfachste Wahlsystem besitzt Großbritannien: gewählt ist, wer in seinem Wahlkreis die meisten Stimmen erhält. Punktum. Das begünstigt natürlich die großen Parteien und erschwert das Aufkommen neuer Formationen bis zu deren Verhinderung. Skurrile Folge auch: Die Opposition kann, etwa durch 80-Prozent-Siege in 49 Prozent der Wahlkreise, auf das ganze Land gesehen 60 Prozent der Stimmen erhalten und doch verlieren, wenn es der Regierung gelingt, in 51 Prozent der Wahlkreise ihre Kandidaten mit jeweils einer Stimme Vorsprung durchzubringen.
Das demokratisch ausgeklügeltste System hingegen weist das benachbarte Irland auf: das Abgeordnetenhaus Dail besteht aus 166 Mitgliedern, es gibt 41 Wahlkreise, die je nach Wählerzahl drei bis fünf Abgeordnete stellen. JedeR vertritt dann mindestens 20.000, höchstens 30.000 EinwohnerInnen. Gewählt wird nach dem Proportionalgesetz, bei dem die Wähler den Kandidaten jeweils Rangnummern geben. Danach wird's kompliziert, weil nun Stimmen hin- und hergeschoben werden müssen. Denn sobald ein Kandidat die für den Einzug ins Parlament notwendige Stimmenzahl erreicht hat, geht der Rest seiner Stimmen an den nächsten Kandidaten. Nachteil: Für die genaue Zusammensetzung muß oft dutzende Male nachgezählt werden. Manipulationsmöglichkeiten: Alle zwölf Jahre werden die Stimmkreise neu festgelegt, und da kann sich die Regierungspartei ihr günstige Aufteilungen schaffen.
Zwischen diesen beiden Extremen gibt es unzählige Mischformen: in Italien wird im reinen Proportionalsystem gewählt (der Anteil der Parlamentssitze entspricht dem Anteil der für die Partei abgegebenen Stimmen). Wer einzieht, ist aber weitgehend Sache der Parteien, da jeder Kandidat in beliebig vielen Wahlkreisen aufgestellt werden kann.
In Deutschland wird die Hälfte der Abgeordneten nach dem einfachen Mehrheitswahlrecht in den Wahlkreisen gewählt, der Rest nach dem Proportionalsystem nach Listen, wobei die Zahl der für die Listen abgegebenen Stimmen die Gesamtvertretung im Parlament regelt. Da eine hohe Einzugsklausel — drei Direktmandate oder fünf Prozent der Stimmen — vorangestellt ist, können kleine Formationen nur selten den Spung ins Parlament schaffen.
In Frankreich wird nach dem Mehrheitswahlrecht gewählt, aber in zwei Gängen. Die Stichwahl zwischen den beiden Bestplazierten fördert die Bildung von regierungstragenden Mehrheiten vor dem zweiten Wahlgang. Das System kann zu ähnlichen Skurrilitäten wie in England führen.
Die offenkundigen Manipulationen des Wählerwillens — von der Fünfprozentklausel bis zum rigiden Mehrheitssystem, das meist zum Zweiparteienstaat führt — werden faktisch überall mit der Notwendigkeit zur Herstellung stabiler Regierungsmehrheiten begründet, der angeblich, obgleich niemals bewiesen, ein durchgehender Wählerwille sein soll, der noch höher anzusetzen ist als eine wirklich repräsentative Zusammensetzung der Parlamente. W. R.
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