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Totengräberinnen für das Leben

Am 11. Juli wird an das Massaker von Srebrenica vor 30 Jahren erinnert. „Die Reparatur der Lebenden“ porträtiert zwei Frauen, die mit mühevoller Präzision weit unbekanntere Massaker aufarbeiten. Auf ihnen ruhen die Hoffnungen vieler Angehöriger

Bei den alten Ägyptern abgeguckt: Die Leichen werden mit Mullbinden umwickelt und in Salz eingelegt Foto: Amel Emric/ap/picture alliance

Von Doris Akrap

Als die deutsche Außenministerin im Jahr 2022 Putins Angriff auf die Ukraine den ersten Krieg in Europa seit 1945 nannte, schüttelten Bosniaken in Bosnien und überall auf der Welt, wo sie der Krieg 1992 und 1995 hingetrieben hatte, den Kopf.

Dass Annalena Baerbock Bosnien vergessen hatte, überraschte die Bosniaken nicht. Von Europa fühlen sie sich spätestens seit dem Nichteingreifen während des Massakers von Srebrenica im Stich gelassen, als die Welt zuschaute, wie serbische Militärs und Paramilitärs massenhaft Bosniaken töteten.

Und so machen sie weiter das, was sie seit 30 Jahren machen: die einen versuchen zu vergessen und so zu leben als sei nichts Besonderes passiert. Die anderen hoffen darauf, dass die Suche nach den Vermissten auch 30 Jahre nach Ende des Krieges nicht aufhört, dass weitere Massengräber gefunden werden und darin die Überreste eigener Angehöriger. 110.000 Tote forderte der Bosnienkrieg, 30.000 Personen werden bis heute vermisst.

Die finnisch-französische Journalistin und Filmemacherin Taina Tervonen hat in ihrem jetzt in deutscher Übersetzung erschienenen Buch zwei Frauen porträtiert, deren Job es ist, diese Toten zu finden. Die eine heißt Darija, sie sucht lebende Angehörige von Vermissten, um ihnen Blut abzunehmen und damit die DNA-Datenbank zu füllen, mit deren Hilfe Knochenteile identifiziert werden. Die andere, Senem, ist forensische Anthropologin und untersucht mit ihrem Team die Knochen auf Spuren zur Identifizierung.

Senem und Darijas Job besteht in den Worten Tervonens darin, das „Leben zu reparieren“. Mit jedem Knochen, den Senem und ihr Team aus einer Tüte holen, werden die Skelettpuzzles auf dem Boden der Hallen vervollständigt, in denen die aus Massengräbern geborgenen Menschenteile liegen.

„Die Knochen sprechen für sich“, sagt Senem. Ihre prägnanten Sätze sind das Pendant zur Präzision, mit der sie die Knochen untersucht. Passt Hüfte zu Oberschenkel? Hat der Schädel das gleiche Alter wie das Becken? Sind Arm und Bein wirklich von demselben Menschen?

„Die Kleidungsstücke kommen mir menschlicher vor als die Knochen“, sagt sie während ihrer Arbeit am Massengrab von Tomasević. Hier war die Erde so lehmig, dass die Leichen samt Kleidung nicht so schnell verwest sind wie anderswo. Drecksarbeit wäre eine richtige Bezeichnung für den Job Senems und ihres Teams von dem Projekt „N.N.“. Sie buddeln Knochen aus der Erde, befreien sie mit einem Kärcher von Matsch, mit dem die menschlichen Teile über Jahrzehnte verschmolzen. Hin und wieder fliegt auch ein Stück menschliches Fleisch in den Ausguss, in dem das Lehmwasser landet.

Das Schlimmste an Senems Arbeit ist der Geruch. Weil sie diesen noch abends im Bett in der Nase hat und die Regierung kein Geld bereitstellt, um die Hallen, in denen die Leichentüten liegen, anständig zu kühlen, wird die Anthropologin erfinderisch. Von den alten Ägyptern guckt sie sich die Mumifizierungsmethode ab: Die Leichen werden mit Mullbinden umwickelt und in Salz eingelegt, das macht sie länger haltbar und den Geruch erträglicher.

Taina Tervonen: „Die Reparatur der Lebenden. Zwei Frauen in Bosnien-Herzegowina auf der Suche nach den Ermordeten des Krieges“. Aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky. Paul Zsolnay Verlag, Wien, 2025, 208 Seiten,

25 Euro

Ein anderes Problem erschwert ihre Arbeit: die Sekundärgräber. Leichen oder Teile von ihnen wurden nachträglich von einem Massengrab auf andere verteilt, um Spuren zu verwischen. „Die Skelette sind in den seltensten Fällen vollständig“, sagt Senem. Liegt nur ein Arm vor, kann die Gerichtsmedizin aber weder die Todesursache erkennen noch eine Sterbeurkunde ausstellen. Die Familie muss dann entscheiden, ob sie bei der jährlichen Trauerfeier, bei der die neu Identifizierten bestattet werden, auch ihre Angehörigen offiziell beerdigen oder weiter auf den vollständigen Beweis warten will.

Zwar ist die Arbeit von Senem und Darija auch nur ein Job, über den sie Witze machen und der einer Routine folgt, zu der Zigarettenpausen gehören sowie Kaffee und Schokokuchen. Aber es ist auch ein besonderer. Diese Besonderheit in der Normalität, diesen erschütternden europäischen Alltag schildert Tervonen auf beeindruckende Weise. Eigentlich hat sie ein Sachbuch geschrieben, eine Dokumentation, die eine reale Geschichte mit realen Figuren erzählt. Das aber mit einer literarischen Qualität, die dem Monströsen eine Leichtigkeit verleiht, als läse man einen Roman über drei Frauen.

Nie werden die detaillierten Schilderungen von Knochensortierungen, Waschvorgängen und Interviewsituationen langweilig oder redundant und die beiden Protagonistinnen werden uns mit einer fast zärtlichen und dennoch distanzierten Haltung als Personen mit Affären und Launen, mit Familien und Wochenendplanungen nähergebracht. Und immer wieder meldet sich die zurückhaltende Beobachterin Tervonen mit vorsichtigen Fragen an die Protagonistinnen, an das, was sie ihr erzählen, und an das, was sie nicht erzählen.

Die literarische Qualität verleiht dem Monströsen eine Leichtigkeit

Worüber Darija und Senem nicht schweigen, ist, dass ihre finanzielle Zukunft davon abhängt, dass ein weiteres Massengrab gefunden wird. Senem aber hadert trotzdem mit der Richtigkeit ihrer Arbeit. Vielleicht sei die Zielsetzung falsch, alle Opfer identifizieren zu wollen. Immer wieder die Angehörigen zu strapazieren, weil wieder ein neues Grab mit neuen Armen und Beinen gefunden wurde, die möglicherweise ein Teil ihrer Angehörigen sind, es dann aber oft eben nicht sind. Vielleicht müsse man die Arbeit abschließen und ein zentrales Beinhaus errichten, zumal die Zukunft der Totengräberinnen stark von der Finanzierung durch internationale Organisationen abhängt, die inzwischen Massengräber in anderen Ländern aufarbeiten müssen, im Irak, in Syrien – und die nächsten entstehen gerade.

Eine nachvollziehbare Idee, deren Tragweite sich Senem bewusst ist: Ein Ende der Suche nach den Toten würde den Leugnern der Massaker in die Hände spielen, die, wie der Chef der serbischen Teilrepublik Bosniens, Milorad Dodik, behaupten, es gebe keine Beweise für die tausendfachen Mordvorwürfe.

Tervonens Buch ist eine atemberaubende Würdigung der Opfer und ihrer Nachkommen, die hart dafür arbeiten, ihre leidvolle Geschichte nicht an die Erzählung der Täter zu verlieren.

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