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■ Totengräber des christlichen Abendlandes am WerkWeiße Wände von den Alpen bis zur Nordsee!

Nordelbische Kirchenfrauen verhökern protestantische Gotteshäuser. Katholische Geistliche gestehen öffentlich Regungen im Unterleib. Blasiussegen und Ignatiuswasser, Märtyrerknochen und Mirakelglaube sind entzaubert. Und gerade noch jeder zwanzigste Deutsche faltet regelmäßig die Hände zum Tischgebet. Es steht schlimm um den christlichen Glauben in Deutschland.

Die Krönung der Gottlosigkeit aber vollbrachten gestern drei Richter der Karlsruher Bundesverfassungsgerichts. Kurzerhand erklärten die Totengräber des christlichen Abendlandes die wichtigste Christen- ikone für verfassungswidrig: das Kruzifix, Zeichen des Opfertodes, Hoffnung der Gläubigen, in Deutschland einstmals verbreitet wie in Thailand die Buddhafigur.

Das Kreuz an deutschen Schulwänden verfassungswidrig? War denn Jesus ein palästinensischer Zelotenterrorist? Ist das Christentum nur eine perfekt getarnte extremistische Vereinigung, der gläubige Bürger ein verkappter Sympathisant? Oder wollten die Verfassungshüter nur die sensiblen Schulkinderseelen vor dem morbiden Zwang bewahren, immerfort einem Gekreuzigten in die todeswunden Augen zu starren? Nein. Den Bilderstürmern vom Verfassungsgericht ging es um mehr: die Gleichstellung aller Propheten, Märtyrer, Heiligen und Götter.

Erst auf diesem Hintergrund wird die ganze Größe der höchstrichterlichen Einmischung deutlich. Die Karlsruher fordern nicht die Gottlosigkeit, sondern, ganz im Gegenteil, den totalen Polytheismus, die absolute Gleichwertigkeit aller Religionen. Heiligenbilder asiatischer Wiedergeburtslehren neben den Ikonen nahöstlicher Wüstenreligionen, die Fetische südamerikanischer Besessenheitskulte neben den Totems zentralafrikanischer Sonnenanbeter.

Für solcherlei Vielfalt freilich sind die Wandflächen deutscher Schulzimmer – einschließlich Plafond und Fußboden – selbstverständlich zu klein. Und für die notwendigen religionspolitischen Meßtrupps, die mittels komplizierter Integral- und Differentialberechnungen die jedem Gott zustehende Fläche berechnen und überwachen müßten, fehlen schlicht die Gelder. So gesehen ist der Schluß der Richter nur zwingend: weiße Kalkwände von den Alpen bis zur Nordsee. Walter Saller

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