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Tote Kartographen

■ Raoul Schrott liest im Rahmen der Literatour Nord Texte vom Sehen der Welt

Selten wurde der Leser vom Autor wohl so im Stich gelassen, wie in Raoul Schrotts „Konvolut“ Finis terrae. Im Vorwort zieht sich der 1964 in Tirol geborene und in Tunesien aufgewachsene Autor den Mantel des Herausgebers über, als wär Schrott nicht selbst Autor dieses unkommentierten Nachlasses, der einem eigenbrötlerischen Archäologen namens Ludwig Höhnel zugeschrieben wird.

Das erste von vier Heften enthält das Logbuch des griechischen Navigators und Astronomen Pytheas von Massalia, der im 4. Jahrhundert vor Christi den Norden Europas befuhr und bis nach Thule gelangte. Schrotts Kunstfigur Ludwig Höhnel hat es übersetzt, nachdem die Papyri von seinem Archäologie-Kollegen Schiaparelli in einer Amphore entdeckt wurden. Die „Übersetzung“ spart nicht an längst vergessenen Inselgruppen- und Länderbezeichnungen. Die Stilistik antiker Reisebeschreibungen wird quellen-echt plagiiert. Viele Details über die Flora der Küstenlandschaft, über beobachtete Bestattungs-, Götter- und Paarungskulte der Einheimischen folgen dicht hintereinander, so daß sich ein bilderreiches Breitstreifen-Mosaik vom Außenriß des europäischen Festlands bildet. Begleitet wird es von kosmologischen Spekulationen, etwa über den Verlauf von Sonnen- und Mondverschiebungen, oder über das nördliche Ende der Welt.

Erst mit Beginn des 2. Heftes beginnt ein extrem verdichteter Sinn wie ein zögerliches „Aha“ den stirnrunzelnden Leser zu überkommen. Höhnel bereist augenscheinlich einen Teil jenes Küstenstrichs, den Phytea vor über 2000 Jahren schon befuhr. Er leidet an einer Lungenentzündung, und was er auf Hotel-Briefbögen festhält, ist gestrichelte, bis zur Erstarrung maskierte Wahrnehmung mit morbid-fatalistischem Unterton. Und mehr und mehr wird das phantasmagorische Programm des Buches deutlich: Astronomische und geographische Wahrnehmungsmuster des Hellenismus dringen effektiv in die Wahrnehmung des Archäologen und bewirken geometriebesessene Zustände der Agonie. Ein Leuchtturm erscheint „viereckig“, Schrägen der Dächer schneiden sich an einem Punkt hinter den Bäumen, die Haut der Badegäste ist welk, alles erscheint wie eine leblose Kartographie der Sehnsucht. Später – im 3. Heft –, rekonstruiert Schiaparelli, inzwischen an den Rollstuhl gefesselt, die antike Weltmaschine des Eudoxos, die jede Erd- und Planetenbewegung knirschend nachvollzieht. Das 4. Heft schließlich schildert die notizenhaft bleibende Überlieferung des Verschwindens zweier Forscher bei der Erkundung einer Insel im Südwesten Afrikas. Das Verschwinden der Wissenschaftler bleibt dabei ebenso ungeklärt wie das Rätsel, das dieser „Roman“ von Satz zu Satz mitschleppt, und das er partout nicht abwerfen oder lüften will.

Heute können wir den „blauen Planeten“ per Dia an die Wand werfen. Der mit antiker Wissenschaft vertraute Autor hingegen konfrontiert den Leser mit einem Fossil der Erdwahrnehmung, datierbar auf Zeiten, in denen sich ein Bild von der Erde durch Meßverfahren und Wahrnehmung erst auszubilden begann.

Mit Schrott findet die im Oktober letzten Jahres begonnene Lesereihe Literatour Nord ihr Ende. Bleibt nur noch abzuwarten, wer aus dem Kreis der Eingeladenen den Preis der Literatour Nord erhalten wird.

Stefan Pröhl Heinrich Heine Buchhandlung, Schlüterstr.1, 19.30 Uhr

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