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Total verkommene Vorbilder

Derzeit schwer en vogue: Nachdenken über Werteverluste, Versager, Absahner und kriminelle Mentalitäten  ■ Von Harry Nutt

Ein bayerischer Wirtschaftsjournalist hatte vor zwei Jahren den richtigen Riecher. Mit „Nieten in Nadelstreifen“ stürmte er bald alle Bestenlisten des Sachbuchmarkts und zog kurze Zeit später mit dem „Kartell der Kassierer“ nach. Die Finanzbranche, verlautbarte er empört, macht Jagd auf unser Geld. Die Führungsetagen von Industrie und Banken waren bis dahin ein dem Gesellschaftsjournalismus verschlossenes Terrain. In den Palästen aus Glas und Stahl waren Enthüllungen tabu. Plötzlich riß einer die Pforten auf und las den Bossen die Leviten. Mit seiner Eliteschelte hatte Günter Ogger nicht nur ein zündendes Thema, sondern auch den treffenden Ton gefunden. Ein Ketzer, dem nichts wichtiger scheint, als selbst in der Kirchengeschichte zu landen.

Ogger beklagte nicht wie seinerzeit Wallraff das System, sondern dessen Ineffizienz. Zu diesem Zweck bedurfte es eines großzügig ausgelegten Elitebegriffs. Rund 1,7 Millionen Menschen in „leitenden Positionen“ gebe es, immer mehr Häuptlinge und immer weniger Indianer, befand Ogger. Das einfache Rezept des apodiktischen Reporters lautet: Noten verteilen und Namen nennen.

Mit dem Aufstieg Edzard Reuters bei Daimler-Benz, posaunt er, begann der Abstieg. Oder: „Wenn der BMW-Lenker Eberhard von Kuenheim zu Fragen der Wirtschaftspolitik Stellung nimmt, schaudert es selbst seinen treuesten Anhängern.“ Im Lexikon des Mißmanagements tauchen Namen auf, die bis dahin freundlich lächelnd von Hochglanzseiten aus die Geschicke der Industrienation zu steuern schienen. Oetker-Schwiegersohn Otto Wolff wird da als größte Manager-Niete der letzten 20 Jahre bezeichnet, und nach der AEG-Pleite befürchtet Ogger nichts Gutes für die Bundesbahn unter Sanierer Heinz Dürr.

Wer ergötzt sich nicht an so viel Häme gegen die mächtigen Männer? Zu Verteidigungsreden jedenfalls fühlte sich kaum einer berufen. Sach- und Lachgeschichten aus der Welt der Wirtschaft, ein solch umfangreiches Klatsch-Brevier mit reichlich Identifikationsstoff hatte noch niemand geliefert. Im Zentrum der Elitenbeschimpfung mit einem Schuß Strukturanalyse steht immer des Lesers narzißtische Frage: Warum sind jene an der Macht und nicht ich. Das Pattern war gefunden, nun mußte man nur noch durchdeklinieren.

Amtsmißbrauch plus Titelträgergebaren

Zum Beispiel der „Professorenreport“: „Eine Elite macht Kasse“. Sie schreiben Gefälligkeitsgutachten und streichen Nebenverdienste in Millionenhöhe ein. Ein Lehrstuhlinhaber entpuppt sich als Titelhändler für Parteigenossen, Koleginnendiskriminierung und Mobbing stehen auf der Tagesordnung. Der Wissenschaftsjournalist Jörg Zittlau aus Mittelfranken stellt der geistigen Elite ein Armutszeugnis aus. Ruhmsucht, Geldgier und Dilettantismus sind unter den abgelegten Talaren zum Vorschein gekommen. Zittlau hat Hintergründe recherchiert, für die das Wort Amtsmißbrauch vorsichtige Umschreibung ist. Gewiß gibt es faule Gelehrte, und einige der dreisten Nebenverdienstpraktiken, die Zittlau nacherzählt, kannte man schon aus der Tagespresse. Der Mißbrauch mit Gutachten und eitlem Titelträgergebaren werfen nicht nur ein Zwielicht auf die Berufsgruppe, sondern auch auf eine allgemeine Expertengläubigkeit. Zittlau zeichnet die Professorenklasse als verschworene Clique, die aus Geldgier und Eitelkeit das Gemeinwohl verraten, in dessen Dienst sie doch stehen. Ansehen, Klüngel und Karrieren, das ist der Stoff, aus dem Serien gemacht werden. Menschen in gehobenen Positionen liegen im Kampf mit ihren Leidenschaften und dem Gemeinsinn. Der faustische Pakt ist geschlossen, und sei es auch nur zugunsten des eigenen Bankkontos. Die Elite der Professoren geht unter, orakelt denn auch der Autor, ein ausgestiegener Hochschullehrer.

Statischer Elitebegriff statt Machtkritik

Was Zittlau im „Professorenreport“ beschreibt, nennt „Mr. Tagesthemen“ Ulrich Wickert in sei

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nem Besinnungsaufsatz „Der Ehrliche ist der Dumme“ Werteverlust. Politiker, Manager, Professoren, Banker und Medienleute sind nur noch Dealer in eigener Sache. Es drohen weitere Cliquenberichte und -romane über Ärzte, Rechtsanwälte und Priester. Doch Wickert benötigt zu seinem Gesellschaftsstück keine tragische Fallhöhe. Die Eliten haben ihre Vorbildfunktion preisgegeben und finden nun massenhaft Nachahmer, die dem schlechten Beispiel hinterherlaufen. Die Versicherungskonzerne im Lande nehmen bestürzt zur Kenntnis, daß immer mehr brave Bürger die Entwendung ihrer Habe vortäuschen, um mit den lockenden Prämien gleich wieder am Äquivalententausch teilzunehmen. Bei der Steuer schummeln ist Volkssport, und irgendwie hat auch die Zunahme der Gewaltdelikte damit zu tun. Wenn der Ehrliche sich fragt, wozu seine Tugend lohnt, zerfällt sie bereits in ihrem Kern.

Wickerts Unterweisungen zeugen von viel gutem Willen, aber auch von einem haarsträubenden Erläuterungszwang. „Pflicht ist out“, schließt er „nicht zuletzt als Reaktion auf das Dritte Reich.“ Doch das Übel des Egoismus ist eine Modernisierungsfolge. Wickert identifiziert die Zunahme der Kriminalität und der Vergehen am Gemeinwohl als Begleiterscheinung der Individualisierung. Ewig droht der Untergang des Abendlandes. Es darf freilich bezweifelt werden, daß die Gesellschaft gesundet, wenn die Eliten wieder stärker auf die Werte des Gemeinsinns verpflichtet werden.

Wickert, Zittlau und andere beschwören mit ihrem statischen Elitebegriff die Macht jener Gruppen, die sie zu kritisieren vorgeben. Wenn der soziale Kompromiß der Bundesrepublik an ein Ende gekommen ist, dann hat das primär nicht mit der Zersetzung moralischer Auffassungen zu tun. Weder Wertintegration noch Nationalbewußtsein waren die Grundlagen der bundesrepublikanischen Erfolgsstory, sondern die Gemeinsamkeit materieller Interessen und deren Befriedigung. In Zeiten drohenden sozialen Wandels werden nun Aufstiegschancen enttäuscht und der Wohlstand weniger gerecht verteilt. Die Brechtsche Verbindung von Fressen und Moral wird vielleicht doch häufig zu wörtlich genommen.

Normen im Menta- litätszusammenhang

Was die Autoren auf unterschiedliche Weise als Verfallsgeschichte interpretieren, liest Stephan Wehowsky in seinem Buch „Schattengesellschaft“ im Mentalitätszusammenhang. Die europäischen Nationen haben unterschiedliche Einstellungen zu Kriminalität und Recht. Jede Gesellschaft hat ihren Schatten der Illegalität.

Die Art, wie sie damit umgeht, verrät etwas über die Beschaffenheit der Werte und Normen, nach denen sie lebt.

Das britische Rechtsempfinden beispielsweise ist von einer tief verankerten doppelten Botschaft geprägt: „Sie besteht einerseits in der Hochschätzung des Rechts und des Gemeinsinns, andererseits aber in der rücksichtslosen Durchsetzung wirtschaftlicher Interessen gerade auf Kosten breiter Teile der Bevölkerung.“ Das Prinzip Fairneß und geradlinige Vorteilssuche bilden einen unauflösbaren Widerspruch innerhalb des britischen Wertesystems. Die kriminelle Mentalität der Franzosen speist sich dagegen aus der Erfahrung eines übermächtigen Staates, während es in Italien neben einer relativ schwachen Staatsgewalt immer die „Mafia-Kultur“ gegeben hat, die auf ihre Weise Normen errichten konnte. Die Mafia verstößt gegen geltendes Recht, ist aber keineswegs ein willkürliches Unrechtssystem.

Kriminelle Mentalitäten in Europa unterstehen keinem objektiven Recht, sondern sind Ergebnisse gewachsener Ordnungen, die sich nicht allein aus der Vernunft erklären lassen. Stephan Wehowsky schärft mit seiner differenzierten Untersuchung den Blick für gesellschaftliche Veränderungen, die das plakative Lamento über Werteverlust und das Versagen von Eliten übertünchen. Wehowsky übersieht keineswegs, daß sich die Qualität der Kriminalität in den einzelnen Ländern verändert. Mit dem Eintritt der italienischen Mafia in das internationale Drogengeschäft hat sich auch deren Moralität gewandelt. In der Internationalisierung der Kriminalität prallen unterschiedliche Mentalitäten aufeinander, doch sie bündeln sich in einer sich immer rasanter drehenden Spirale auf der Suche nach schnellem Geld. Diese europäische Einigung könnte verheerende Folgen haben. Wehowsky freilich hütet sich vor einer bündigen Theorie über die Schattengesellschaft, er ordnet Indizien nach internationalen Maßstäben. In seiner lehrreichen, bisweilen sogar kriminalistisch spannenden Arbeit gibt er das Raster vor, in dem soziale Handlungen von einzelnen und Gruppen gesehen werden müssen, wenn sie das Wert- und Gerechtigkeitsempfinden verletzen.

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