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Tödlicher Fangschuß vor dem Kadi

Polizist erschoß im Januar 1993 Rumänen bei aussichtslosem Fluchtversuch / Staatsanwaltschaft erhebt nach fast einem Jahr Anklage wegen fahrlässiger Tötung  ■ Aus Magdeburg Eberhard Löblich

Fast ein Jahr lang ermittelte die Staatsanwaltschaft, und ganz gegen vielerorts übliche Praxis schloß sie zu guter Letzt nicht die Akten, sondern erhob Anklage gegen einen Polizeibeamten. Dieser hatte im Januar 1993 im ummauerten Hof des Polizeireviers in Staßfurt den 21jährigen Rumänen Lorin R. Alias Emil P. bei einem von vornherein aussichtslosen Fluchtversuch erschossen. „Die Anklage geht davon aus, daß der angeschuldigte Polizeibeamte auf Emil P. zwei Warnschüsse abgab, als dieser aus dem Polizeigewahrsam fliehen wollte“, heißt es lapidar in einer Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft. Nach dem Gutachten eines ballistischen Sachverständigen sei eines der Geschosse vom Betonboden des Revierhofes abgeprallt und habe P. tödlich in den Rücken getroffen. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft war der Schußwaffengebrauch von vornherein pflichtwidrig, weil er „in der gegebenen Sachlage nicht angebracht war“. Denn der zum Zeitpunkt des Fluchtversuchs verschlossene Hof des Reviers ist von Mauern umgeben, die so hoch sind, daß sie der Rumäne ohne Hilfe gar nicht überwinden konnte. Außerdem habe der Beamte bei der Abgabe der Warnschüsse nicht die notwendige Sorgfalt walten lassen, was eine Anklage wegen fahrlässiger Tötung rechtfertige.

Erst 18 Tage nach dem nächtlichen Todesschuß wurde der Vorfall seinerzeit öffentlich bekannt. Vorzuwerfen war dem Rumänen allenfalls ein Verstoß gegen das Asylverfahrensgesetz. Der 21jährige war gemeinsam mit einem Freund am 21. Januar in der Innenstadt von Staßfurt aufgegriffen und zur Feststellung der Personalien in das Polizeirevier gebracht worden. Beide waren als Asylbewerber in Münster registriert, hätten sich deshalb also nicht in Sachsen-Anhalt aufhalten dürfen.

Bei ihrer vorläufigen Festnahme gab es keinerlei konkreten Tatverdacht, die beiden Asylbewerber seien einer Streife „nur irgendwie aufgefallen“, hatte die Staatsanwaltschaft im Februar 93 bestätigt. Eine Stunde nach Mitternacht habe der 21jährige zur Toilette gehen wollen. Der jetzt angeklagte 54jährige Hauptwachtmeister begleitete den Mann zum Herzchenhäuschen über den Hof. Nach Aussagen von Revierbeamten habe sich Lorin R. auf dem Weg im Hof losgerissen und einen Fluchtversuch unternommen. Auf dem verschlossenen und von Mauern umgebenen Hof habe sich der Beamte nicht anders zu helfen gewußt, als zwei Warnschüsse auf den nachweislich unbewaffneten Flüchtling abzugeben. Der Abpraller machte dann einen gezielten Schuß zur Fluchtverhinderung überflüssig. Am Anfang der Ermittlungen war die Staatsanwaltschaft noch davon ausgegangen, daß der Hauptwachtmeister einen gezielten Schuß auf den Flüchtling abgegeben hatte, nachdem der auf einen ersten Warnschuß nicht stehengeblieben war.

Nach inoffiziellen Informationen aus dem Innenministerium hatten Staatsanwaltschaft und Polizei nach dem Vorfall abgesprochen, die Öffentlichkeit nur auf Anfrage zu informieren. Denn im Januar vergangenen Jahres drohte das seinerzeit ohnehin nicht gerade gute Bild der Polizei Sachsen-Anhalts in der Öffentlichkeit zu einer Karikatur schießwütiger Wildost-Helden zu werden. Nur einen Tag vor dem Vorfall im Staßfurter Polizeirevier hatte in Bitterfeld ein Polizeibeamter einen jungen Einbrecher auf frischer Tat ertappt und bei einem Fluchtversuch erschossen. Auch dieser Schuß traf wie bei Lorin R. in den Rücken. Über die Eröffnung des Hauptverfahrens gegen den 54jährigen Hauptwachtmeister hat das Schöffengericht am Amtsgericht Staßfurt noch nicht entschieden.

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