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Archiv-Artikel

Tödliche Holding

Roberto Saviano kennt die Camorra von Kindesbeinen an und greift sie in seinem einzigartigen Tatsachenbericht nun frontal an

VON MICHAEL BRAUN

Ein Junge sitzt mit seinem Vater im Restaurant, fast alle Tische sind besetzt, zuletzt kommt eine Gruppe Männer herein. Obwohl sie eine Stunde später als die anderen Gäste eingetroffen sind, werden sie zuerst bedient. „Das sind die, die wirklich kommandieren“, belehrt der Vater seinen Sohn. Und deshalb gebührt ihnen Respekt.

Es ist ein sehr einseitiger Respekt, der von der anderen Seite mit herablassender Großzügigkeit beantwortet wird: Die Männer halten das ganze Lokal frei. Nur dem Lehrer vom örtlichen Gymnasium wagen sie nicht das Mittagessen zu spendieren, denn der hat als Einziger nicht gegrüßt und sich so als unversöhnlicher Gegner der Mafiosi offenbart. Eine Flasche Limoncello bekommt aber selbst er als Präsent auf den Tisch gestellt.

Jener Lehrer, der Philosophie unterrichtete, war für Roberto Savianos Vater das klassische Beispiel des Gescheiterten. Der Lehrer nämlich mochte „die Worte beherrschen“, aber im Leben zählt eigentlich nur der, der „die Sachen beherrscht“: der Mafiaboss, der sich Respekt zu verschaffen weiß. Savianos Vater war kein Mafioso, sondern bloß einer, der in einer mafiaverseuchten Stadt lebte – und dabei selbst zum Opfer wurde. So wurde der Arzt in den Achtzigerjahren einmal an den Ort eines Verbrechens gerufen. Ein vielleicht 18-Jähriger lag verletzt in seiner Blutlache.

Die Sanitäter wollten ihn nicht abfahren, denn das örtliche Ritual sah etwas anderes vor: Die Mörder, die die Sirene der Ambulanz gehört haben, kehren an den Tatort zurück und geben ihrem Opfer, im Beisein der freundlich wartenden Sanitäter, den Gnadenschuss. Vater Saviano blieb hart, der Verletzte wurde sofort abgefahren – und so gerettet. Dafür rückte ein paar Tage später ein Kommando bei dem Arzt an und schlug ihn zusammen. Zwei Monate ließ der sich daraufhin nicht mehr im Ort blicken.

Er hatte seine Lektion gelernt, sein Sohn Roberto Saviano dagegen nicht. Für uns ist das ein Glücksfall. Der heute 28-Jährige studierte nämlich nicht nur Philosophie, ganz wie der „gescheiterte“ Lehrer aus dem Restaurant. Er lernte auch, fulminant „die Worte zu beherrschen“ und schrieb all das auf, was er über die Jahre beobachtet hatte, mit geschultem Blick und ohne jeden Respekt. Herausgekommen ist ein bisher einzigartiges Werk über die Camorra, über die in Neapel und Umgebung präsente Spielart der Mafia – ein harter Tatsachenbericht, der doch zugleich große Literatur ist.

Hinsehen ist die erste Kunst, die Saviano beherrscht: Er war als Packer dabei, als in China gefertigte Markenschuhe von Schmugglern nachts von einem Schiff auf kleine Boote verladen wurden. Er sah zu, als einige Dealer im Dienste der Camorra ihr Heroin an den heruntergekommensten Heroinsüchtigen testeten. Er besichtigte die leer stehenden protzig-kitschigen Villen flüchtiger Bosse, und er fuhr an die Tatorte, an denen die Leichen der im Krieg zwischen den Camorra-Banden Gefallenen lagen.

Saviano erzählt das alles merkwürdig unaufgeregt, wie einer eben, der in diesem Elend groß geworden ist – doch zugleich schafft er es, gerade mit seinem nüchternen, manchmal fast zynischen Ton die ganze Barbarei wirkungsvoll zu geißeln.

Völlig subjektiv kommt „Gomorrha“ daher – der Leser fühlt sich, als werde er von Saviano auf dem Rücksitz seiner Vespa mitgenommen, während der durch die übelsten Viertel Neapels kurvt oder durch Kleinstädte wie Casal di Principe, wo der „Clan der Casalesi“ unangefochten herrscht und die Bosse auch die Großunternehmer sind.

Zugleich leistet Saviano, ganz ohne Fußnoten und wissenschaftlichen Apparat, eine gründliche Analyse. Der Untertitel der italienischen Originalausgabe verspricht eine „Reise in das Wirtschaftsimperium und in den Herrschaftsraum der Camorra“ – und das Versprechen wird eingelöst. Saviano macht die Besonderheit der Camorra gegenüber dem „gewöhnlichen“ organisierten Verbrechen deutlich: Niemals könnte sie so ungestört wirken, würde sie nicht vor Ort wie in der nationalen Öffentlichkeit systematisch totgeschwiegen – obwohl alle sie selbstverständlich kennen. Dieses Prinzip gilt für andere Mafiaorganisationen natürlich ebenso.

Keine große italienische Zeitung hielt es denn auch für nötig, den Großprozess gegen den „Clan der Casalesi“ zu verfolgen. Dabei kamen auch dort jene Fakten auf den Tisch, von denen Saviano spricht. Die Camorra ist eben nicht nur eine Organisation von Drogendealern und brutalen Mördern, sondern zugleich ein Wirtschaftsimperium. Sie betreibt Boutiquen in Berlin, kontrolliert das Baugeschäft nicht bloß zu Hause, sondern auch in Norditalien.

Zudem steht sie mit den großen Modehäusern aus Mailand ebenso in Geschäftsbeziehungen wie mit jenen Lebensmittelkonzernen, die den Camorristi die exklusive En-gros-Vermarktung von Milch und Panettoni in ganzen italienischen Regionen überlassen hatten. Als Geschäftsleute agieren die Bosse meist äußerst freundlich – im Wissen, dass niemand ihre Gewaltbereitschaft unterschätzt.

Seit seiner Geburt vor 28 Jahren, rechnet Saviano vor, sind allein dieser schießwütigen Holding 3.600 Menschen zum Opfer gefallen. Doch in Italien ist das eigentlich keine Nachricht, genauso wenig wie die Tatsache, dass die Camorra die Region Kampanien völlig im Griff hat, die Cosa Nostra Sizilien und die Ndrangheta Kalabrien. Saviano schaffte es mit seinem in Italien fast eine Million Mal verkauften Buch, diesen Skandal wieder in den Blick der Öffentlichkeit zu rücken. Das verzeihen ihm die Mafiosi nicht.

Als er, das erste Mal seit einem Jahr, im September in seiner Heimatstadt Casal di Principe bei einer Kundgebung öffentlich auftrat, musste er durch Scharfschützen geschützt werden. Und aus dem Publikum heraus protestierte ein 81-Jähriger, den dort jeder kennt – der Vater Francesco Schiavones, des mächtigsten Bosses vor Ort.

Ungerührt beschimpfte der Greis den jungen Autor als Scharlatan und behauptete, in Casal di Principe gebe es keine Camorra, sondern nur „Unternehmer“. Was er offenbar nicht wusste: Damit bestätigte er nur Savianos These von der Selbstdarstellung der Mafiabosse.

Roberto Saviano: „Gomorrha. Reise in das Reich der Camorra“. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Rita Seuß. Hanser Verlag, München 2007, 368 Seiten, 21,50 €