: Tod im Museum
■ Heyme, Urgötz und die Ruhrfestspiele
Der Mai ist gekommen, die Ruhrfestspiele schlagen aus.
Festspiel - das weckt noch immer Assoziationen von Nichtalltäglichkeit und Spektakel. In Recklinghausen ist der Lack seit Jahren gründlich angekratzt. Die Dauerkrise der in die Jahre gekommenen Traditionsinstitution resultiert nicht zuletzt daher, daß ihr der so notwendige Glanz im Laufe ihrer Geschichte verlorenging. In ihrer Not wandte sich die Kunst an die Wissenschaft und erhielt ein Gutachten. Das verordnete Genesungsrezept: eine längst überfällige Strukturreform und - erstmals in der Geschichte der Festspiele - einen unabhängigen Festspielleiter. Der ward, nach über einjährigem und nicht besonders intensivem Suchen, direkt vor den Toren der Stadt gefunden. Sein Name: Hansgünther Heyme, Schauspieldirektor in Essen und Professor der Folkwangschule. Was ihn als Festspielleiter attraktiv macht, ist nicht nur seine Qualifikation als Theatermann, sondern auch sein Engagement als kulturpolitischer Redner und Kämpfer wider das Theatersterben.
Heyme und die Ruhrfestspiele, das hat Tradition. 1974 inszenierte er Macbeth und vor drei Jahren erstmals Goethe, damals den Faust. Der spielte in der Waschkaue, und das Gretchen sang, sich selbst auf der knatschroten E -Gitarre begleitend, die schmerzensreiche Mutter so nachdrücklich an, daß der Kommunalverband Ruhrgebiet mit diesem historischen Ereignis noch heute für das „starke Stück Deutschland“ wirbt. Mit soviel Vorschußlorbeeren bedacht, war von Heymes diesjähriger Produktion als designierter Festspielleiter nichts Geringeres zu erwarten als eine programmatische Erklärung zum künftigen Kurs des Festspiels.
Wieder ist es Goethe, diesmal der Urgötz, korrekt betitelt Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand. Der Urgötz, das ist jene Fassung, die der zweiundzwanzigjährige Goethe 1771 während seiner Straßburger Studienzeit in ganzen sechs Wochen niederschrieb: „Ich dramatisire die Geschichte eines der edelsten Deutschen, rette das Andencken eines braven Mannes“.
Schon bevor der bereits vor Vorstellungsbeginn zur Hälfte gelüftete Vorhang im Festspielhaus sich endgültig öffnet, ist klar, wohin Heymes Reise auf den Spuren des urdeutschen Freiheitskämpfers geht: Sie führt geradewegs ins Museum, und ein tadelnswert pessimistischer Geist wäre, wer allein aus dieser Tatsache frühe Rückschlüsse auf einen etwaigen Begräbnischarakter des Kommenden zu ziehen wagte. Schließlich kann auch Museumspädagogik eine durchaus spannende Angelegenheit sein, und ein Regisseur, der den Deutschesten aller Deutschen in die Disko schickte, wird doch wohl keinen Respekt vor scheppernden Ritterrüstungen haben? Doch die Zeiten haben sich geändert. Heute geht es nicht mehr allein um antiquierte waffenklirrende Haudegen, die von der historischen Notwendigkeit hinweggefegt werden so billig ist in Deutschland 1990 kein Klassiker mehr zu behandeln. Es geht um Größeres: Das Thema des Abends ist Deutschland, das wie auch immer Nationale und die Aufgabe der Kunst, nicht mehr und kein bißchen weniger. Gestrenges Licht erhellt den Raum. Achtung, Geschichtsunterweisung!
Wolf Münzners aquariumsblaue Bühne (Festspielhaus, also sehr groß) ist fast leer. Sie bildet den klassizistischen Innenraum eines Museums, einen wahren Kunsttempel, nach. Geschmückt ist die heilige Halle durch prächtige Stuckverzierungen und - drohend die Fortführung der Geschichte in die Gegenwart manifestierend - eine Neonleiste. An der Rückfront der auf der rechten Hälfte nach hinten versetzten Bühne prangen in dicken Goldrahmen vier Dürergemälde, darunter die Kreuzigungsszene und das Porträt Kaiser Maximilians. Auf einem Stuhl in der linken hinteren Ecke sitzt ein Museumswärter (Peter Kaghanovich) unter einem Bild Johannes des Täufers. Während der nächsten vier Stunden wird er die Bühne nicht verlassen. Er wird das Geschehen beobachten und während des Marsches durch die Geschichte in verschiedenen Rollen schlüpfen, ein wandelbarer Charakter und somit als Gegenpart zu Götzens starrer Individualität konzipiert. Auf der vorderen rechten Bühnenhälfte finden sich in ebenso musealer Anordnung einige spärliche Requisiten: eine Ritterrüstung, ein Kaisermantel, ein Schlachtroß, ein prunkvolles Frauengewand, eine Reichsfahne und zwei Prospekte im Hintergrund zur Schau gestellter Gemälde. Auf dem engen Raum, der zwischen den Vitrinen bleibt, arrangiert der Regisseur das Drama nach Art einer 60er-Jahre-Oper. Auftritt der jeweils handelnden Personen von rechts, Aufstellen in Positur zur Rampe, Text aufsagen, trapp, trapp, zur gleichen Seite ab. Zur Charakterdarstellung bleibt da keine Zeit, es geht zu wie im Taubenschlag. Die Frauen raffen die Röcke, je nach Rolle züchtig oder verführerisch, die Männer, sofern sie jung sind, gebärden sich ungestüm, bei den älteren Protagonisten herrscht vitales Haudegentum vor. Da klirren die Waffen, Götz (Wolfgang Robert) reckt energisch die Eiserne, sein Kamerad Selbiz (Klaus-Peter Wilhelm) schwingt käpferisch das Holzbein. Männer sind's eben, trinkfeste Waffenbrüder. Beim Wort „Freiheit“ heftet sich ihr Blick fest in eine ungewisse Ferne, die Vokabel „deutsch“ verläßt inbrünstig ihre Lippen. „Deutschland, Deutschland, du siehst einem Moraste ähnlicher als einem schiffbaren See“, ruft emphatisch der Museumswärter, in den Mantel des Kaisers Maximilian gehüllt. Was soll das Getöse? Deutschland, brünstig Vaterland? Heyme wäre nicht Heyme, hätte er sich nicht etwas dabei gedacht. Jede gespreizte Pose hat ihren präzisen Sinn. Der Regisseur erzählt den Götz als eine Geschichte der Verengung und Verarmung einer ganzen Nation (und da ist bei Heyme das Theater von vornherein mit eingeschlossen). Wir wohnen einem Lehrstück über den Verlust der Individualität bei.
Während der Ritter und seine Getreuen um ihren Fortbestand in einer Welt ringen, die mit ihnen schon längst nichts mehr anfangen kann, wird ihnen ganz real und praktisch der Boden unter den Füßen weggezogen. Je weiter die Geschichte fortschreitet, um so mickriger wird der Bühnenraum, der dem Drama bleibt. Unaufhaltsam schiebt sich die Rückfront des Museums nach vorn und kippt auf ihrem Vormarsch die überflüssig gewordenen Requisiten mit Riesengepolter in den Orchestergraben. Zum Schluß hat sich das Theater vollständig in den Abgrund abgeräumt, und wir sind endgültig in der Gegenwart angelangt. Die Bühne ist leer, raumfüllend und raumergreifend sind allein die Statistenheere, ohne die kein Festspiel auskommt, das was auf sich hält. Sie sind die Agenten der neuen Zeit, unerschütterlich in ihren grauen Anzügen und die einzig Überlebensfähigen des Abends. Am Ende, wenn der schon fast entrückte Götz mit einem letzten Ruf nach „Freiheit!“ vor Dürers Kreuzigungsszene dekorativ sein Leben aushaucht, wenden sie sich gelangweilt den Bildern der Ausstellung zu.
So zwingend logisch Heymes Inszenierungskonzept ist, so quälend ist es auszuhalten. Die vorgeführten Verluste sind auch die Verluste der Zuschauer. Denn die werden all dessen beraubt, was Theater ausmacht. Statt Sinnlichkeit gibt's Theorie und Kopflastigkeit, und das Wort Passion bekam für so manchen in Recklinghausen eine biblische Bedeutung. Aber vielleicht ist das ja die neue Erfahrung, die die Ruhrfestspiele ihrem Publikum ermöglichen wollen: Ich leide, also bin ich.
Andrea Faschina
Goethe: „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen mit der eisernen Hand, dramatisiert“, Regie: Hansgünther Heyme, Ruhrfestspiele Recklinghausen.
Die nächsten Aufführungstermine im Festspielhaus täglich vom 23. bis 27.Mai.
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