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Tod Martin Luther Kings vor 40 JahrenFromm, liberal, amerikanisch

Vor 40 Jahren wurde Martin Luther King ermordet. Doch die Bürgerrechtsbewegung konnte den informellen Rassismus nicht überwinden.

Die Kugel traf ihn in die rechte Wange, zertrümmerte den Kiefer und bohrte sich ins Rückenmark, bevor sie schließlich in der Schulter stecken blieb. Tödlich getroffen fiel Dr. Martin Luther King jr. am frühen Abend des 4. April 1968 auf dem Balkon des Lorraine Motels in Memphis/Tennessee zu Boden. Mit dem Tod des Wortführers der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung und Träger des Friedensnobelpreises endete eine Ära, die anderthalb Jahrzehnte zuvor in der amerikanischen Provinzhauptstadt Montgomery im Bundesstaat Alabama begonnen hatte - und zwar mit der schlichten, aber doch so mutigen Weigerung einer schwarzen Näherin, ihren Sitzplatz im Bus für einen später zugestiegenen Fahrgast weißer Hautfarbe zu räumen.

Rosa Parks war nicht die Erste, die sich einer solchen Anordnung widersetzte und dafür verhaftet wurde. Aber dieser 1. Dezember 1955 wurde zu einem besonderen Tag. Denn in der Folge riefen die örtliche Womens Political League und Bürgerrechtsgruppen zum Boykott des lokalen Busunternehmens auf. So begann der breite, organisierte Widerstand gegen die gesetzliche Rassentrennung, die die öffentlichen Einrichtungen im Süden der Vereinigten Staaten beherrschte.

Überall, in den Bussen, Schulen, Universitäten, Bibliotheken, Schwimmbädern, Museen, Kinos, Bars, Restaurants, waren Weiße und Schwarze ganz legal voneinander getrennt; überall hingen Schilder mit der Aufschrift "Nur für Weiße". Und die mussten rigoros befolgt werden. Bei Verstößen gegen diese Ordnung griff der weiße Mob zu Gewalt und Lynchjustiz, die Polizei hetzte Hunde auf die Schwarzen. Die USA als Apartheidstaat - und in Washington traute sich kein weißer Politiker, gegen diese Apartheid vorzugehen, nicht einmal Präsident Franklin D. Roosevelt, geschweige denn General Dwight D. Eisenhower.

Nur wenige Tage nach Rosa Parks Verhaftung versammelten sich tausende Menschen in der Holy Street Baptist Church, um den 26-jährigen Pastor, den man sich zum Sprecher gewählt hatte, über den Boykott predigen zu hören: "Ihr wisst, meine Freunde, es kommt eine Zeit, da die Menschen es satthaben, dass auf ihnen mit den eisernen Füßen der Unterdrückung herumgetrampelt wird", sagte Dr. Martin Luther King jr. "Was wir tun, ist kein Unrecht. Wenn wir Unrecht haben, hat das Oberste Gericht dieser Nation Unrecht. Wenn wir Unrecht haben, hat die Verfassung der Vereinigten Staaten Unrecht. Wenn wir Unrecht haben, hat der allmächtige Gott selbst Unrecht. (...) Wir sind hier in Montgomery entschlossen, dafür zu arbeiten und zu kämpfen, bis Gerechtigkeit wie Wasser fließen wird und Rechtschaffenheit wie ein gewaltiger Strom."

Gott steht auf der Seite der Unterdrückten - dieser von King in der Baptistenkirche formulierte befreiungstheologische Impuls war der Ursprung und das Rückgrat der Bewegung. Denn er machte die wichtigste Institution im schwarzen Amerika, die segregierten Kirchen, und ihre gläubigen Anhänger zum Träger des Protests.

Dabei bezog sich King auf den fundamentalen Widerspruch des Landes. Einerseits waren die USA bei ihrer Gründung im späten 18. Jahrhundert das fortschrittlichste Land der Welt. Während Europa sich noch fest im Griff der traditionellen Oberklassen befand, erklärten die Bürger der nordamerikanischen Kolonien ihre Unabhängigkeit von der englischen Krone und gaben sich eine Verfassung, in der sie schriftlich fixierten, dass alle Menschen frei geboren und von Natur aus mit gleichen Rechten ausgestattet seien.

Andererseits blieb das "land of the free" auch nach der Unabhängigkeit eine Sklavenhaltergesellschaft, in der die Sklavenhalter über verschleppte Afrikaner als ihr Eigentum verfügen konnten. Einen Widerspruch sahen sie darin nicht und insistierten sogar darauf, dass der Besitz von Sklaven ihre eigene Freiheit erweitere. Selbst nach der Abschaffung der Sklaverei im Bürgerkrieg (1861-65) wurde den Schwarzen in den ehemals konföderierten Staaten des Südens die Gleichberechtigung weiterhin verweigert.

Die Bürgerrechtsbewegung stellte diesen Widerspruch zwischen der "liberal tradition" und der gesetzlichen Rassentrennung, zwischen Verfassungsnorm und -wirklichkeit, ins Zentrum ihrer Politik. Anders gesagt: Sie appellierte an das liberale Gewissen, um die antiliberalen Restriktionen zu überwinden, denen sich die Schwarzen ausgesetzt sahen. Dabei konnte sie sich auf eine neue Rechtsauslegung des Obersten Gerichts der USA berufen, das im Mai 1954 seinen eigenen Beschluss von 1896 aufgehoben und die gesetzliche Rassentrennung für illegal erklärt hatte.

Damit aber kämpfte die Bürgerrechtsbewegung nicht so sehr gegen "das System", als vielmehr dafür, in das System einbezogen zu werden. Sie artikulierte ihren Protest in der Sprache der US-amerikanischen Demokratie und nutzte deren Symbole. Dass selbst die oppositionelle Bewegung der ehemaligen Sklavinnen und Sklaven ihren Kampf um Gleichberechtigung auf die liberalen Werte und republikanischen Institutionen gründete, unterstreicht nicht nur ihren genuin amerikanischen Charakter, sondern illustriert zugleich, wie sehr die "liberal tradition" den American Way definiert hat: Nicht einmal der Umstand, dass die staatlichen Institutionen im Laufe der Auseinandersetzungen oft - und immer wieder auch äußerst gewaltsam - gegen die soziale Bewegung in Stellung gebracht wurden, führte zu einer grundlegenden Abkehr der Akteure vom Staat.

 

Schon bald nach dem Erfolg von Montgomery konstituierte sich unter Führung von Martin Luther King die Southern Christian Leadership Conference (SCLC), die den gewaltfreien Kampf der Bewegung rasch auf den gesamten Süden des Landes ausdehnte.

Der Appell an die liberalen Werte des Amerikanismus und der christliche Leitgedanke der Bewegung verhalfen der Bürgerrechtsbewegung auch zu Sympathien unter Weißen, vor allem im Norden des Landes, die man als Bündnispartner auf dem Weg zur Eroberung einer gesellschaftlichen Reformmehrheit ansah. Diese Bündnispolitik hatte jedoch ihren Preis. So sah sich King wiederholt zur Zurückhaltung veranlasst, um die Unterstützung durch liberale Weiße nicht zu gefährden. Gerade wegen dieser Zurückhaltung, die sie angesichts der anhaltenden weißen Gewalt für verfehlt hielten, übten schwarze Nationalisten heftige Kritik an King oder denunzierten ihn gar - in Anspielung an die Figur im berühmten Buch - als "Onkel Tom", als servilen Diener weißer Interessen. Insbesondere in den innerstädtischen Gettos des Nordens traf diese Kritik am vermeintlich vergeblichen Streben nach Integration in die weiße Gesellschaft auf große Resonanz. Zum Wortführer der "befreiungsnationalistischen" Agitation wurde ebenfalls ein Prediger, nämlich Malcolm X, der lange Zeit der religiös-nationalistischen "Nation of Islam" angehörte. Malcolm X hielt dem auf dem großen "March on Washington" 1963 verkündeten "Traum" Kings von einem "farbenblinden" Land ohne Rassenschranken entgegen: "Ich sehe keinen amerikanischen Traum, ich sehe einen amerikanischen Albtraum."

Martin Luther King und die SCLC blieben jedoch einstweilen die dominierende Kraft. Aufgrund des anhaltenden zivilen Ungehorsams der Bewegung verabschiedete der Kongress schließlich Mitte der 60er-Jahre eine Reihe von Gesetzen, die die gesetzliche Rassentrennung, die Verweigerung des Wahlrechts und die offene Benachteiligung der Schwarzen auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt abschafften. Damit war die Bürgerrechtsbewegung am Ziel: Endlich, 350 Jahre nach Ankunft der ersten schwarzen Sklaven in den nordamerikanischen Kolonien, 100 Jahre nach der hart erkämpften Proklamation der Sklavenbefreiung im Bürgerkrieg, wurden auch die Schwarzen gleichberechtigte Bürgerinnen und Bürger der Vereinigten Staaten. Der schwarze Kampf für die Gleichberechtigung führte damit nicht nur zur Aufhebung der Gesetze zur Rassentrennung, sondern veränderte und erweiterte zugleich das amerikanische Verständnis von "Freiheit".

Die gesetzliche Rassentrennung war abgeschafft; jetzt ging es darum, reale Gleichberechtigung herzustellen. Martin Luther King hielt dabei weiterhin an der Strategie außerparlamentarischen Widerstands fest. Nach dem Ende der gesetzlichen Segregation im Süden begann er 1966 in Chicago eine groß angelegte, heute fast vergessene Kampagne gegen die informelle Rassentrennung im Norden. Auch hier standen die Schulen und Wohngebiete im Mittelpunkt; auch hier organisierte King friedliche Demonstrationen, die auch hier auf den gewaltsamen Protest vieler Weißer trafen.

Insgesamt endete Kings Kampagne in Chicago nach zwei Jahren allerdings in einer herben Niederlage. Die Weißen im Norden schienen mit der Bewegung nur so lange zu sympathisieren, bis diese vor ihren eigenen Haustüren stand und Änderungen anmahnte. "Ich habe niemals in meinem Leben eine solche Feindseligkeit und einen solchen Hass gesehen", bilanzierte ein frustrierter King. Das Scheitern der Bewegung in Chicago wurde so auch zu einem sichtbaren Beleg für die Zähigkeit der informellen Rassentrennung, die sich als weitaus hartnäckiger erweisen sollte als die gesetzliche.

Noch mehr als seine Kampagne gegen den informellen Rassismus ist in Vergessenheit geraten, dass sich der kontinuierlich vom FBI überwachte und unter Druck gesetzte sowie für seinen zivilen Ungehorsam über 30-mal inhaftierte King im Zuge der sozialen Kämpfe radikalisierte. Insbesondere stellte er sich ab 1966, zum Leidwesen vieler seiner weißen Unterstützer, offen gegen den Vietnamkrieg, an dessen Kosten letztlich die von Präsident Lyndon B. Johnson aufgelegten sozialstaatlichen Great-Society-Programme scheitern sollten. Überhaupt widmete sich King jetzt stärker der sozialen Frage. So organisierte er unmittelbar vor seiner Ermordung eine "Poor People's Campaign". Auch nach Memphis war er gereist, um einen Streik schwarzer Müllmänner zu unterstützen.

In den Tagen nach dem Attentat auf King kam es landesweit zu Unruhen in über hundert Städten. Statt "We shall overcome" sangen die Aufständischen nunmehr "Burn, baby, burn". Mit dem Wortführer der Bewegung starb, so schien es, auch seine Philosophie des gewaltfreien Widerstands, zumal sich seit Mitte der 60er-Jahre die Unterstützung für den Ruf nach realer "Black Power" verstärkt hatte. Bestehende Gruppen wie das Student Nonviolent Coordinating Committee radikalisierten sich, und neu gegründete, wie die Black Panther Party for Self-Defense, beriefen sich eher auf den 1965 ermordeten Malcolm X als auf den in ihren Augen zu gemäßigten King.

Auf der anderen Seite des politischen Spektrums der schwarzen Gemeinschaft forderten Protagonisten der Bürgerrechtsbewegung, sich auf einen "Marsch durch die Institutionen" zu begeben. Statt weiterhin primär auf außerparlamentarische Aktionen zu setzen, sollten die Schwarzen sich auf die ihnen nunmehr mit dem Wahlrecht gegebenen Mitwirkungsmöglichkeiten besinnen und auf dem Weg der Teilnahme auch an Teilhabe gewinnen. In diesem Sinne forderte Bayard Rustin, ein Berater Kings, den Übergang der Bewegung "vom Protest zur Politik".

Diese "realpolitische" Strategie konnte bald erste Erfolge vorweisen. So stieg die Anzahl der schwarzen Abgeordneten in den Parlamenten deutlich an, und im Kongress formierte sich mit dem Congressional Black Caucus bereits im Jahr 1971 ein Zusammenschluss schwarzer Abgeordneter. In Städten mit einer afroamerikanischen Mehrheit wurden bald auch schwarze Bürgermeister gewählt. In den 70er- und 80er-Jahren erreichte diese Institutionalisierung des Protests durch eine hohe Mobilisierung der Schwarzen und geschickte Bündnispolitik ihren Zenit. Auch in einigen Städten, in denen die Afroamerikaner nur eine mitunter kleine Minderheit ausmachten, wurden Schwarze an die Spitze der Lokalregierung gewählt, darunter in den Metropolen Los Angeles, Chicago und New York. Selbst auf Bundesebene erreichte die politische "Regenbogen"-Mobilisierung mit den Präsidentschaftskandidaturen Jesse Jacksons in den 80er-Jahren ihren Höhepunkt.

Doch zur Zeit der Präsidentschaft Ronald Reagans, in dessen "republikanischer Koalition" die Schwarzen keinen Platz hatten, zeichnete sich gleichzeitig immer deutlicher ab, dass die Bewegung zunehmend in den Institutionen stecken blieb. Nachdem die Bürgerrechtsbewegung das Land von Grund auf erneuert hatte, erfolgte nämlich ein konservativer Backlash, der das Erbe Martin Luther Kings und damit auch die "liberal tradition" schwer beschädigte. Denn die republikanische Partei hat sich - von Reagan bis George W. Bush - wieder der Politik ihres 1964 gescheiterten Präsidentschaftskandidaten und erzkonservativen McCarthy-Freundes Barry Goldwater zugewandt und damit auch dem, was der amerikanische Historiker Richard Hofstadter einst den "Paranoid Style in American Politics" nannte.

Entsprechend ambivalent sind heute, nach drei Jahrzehnten konservativer Hegemonie, die Ergebnisse der Institutionalisierung. Während vielen Afroamerikanern der Aufstieg in die Mittelschicht gelungen ist und die Möglichkeiten der politischen Partizipation gewachsen sind, hat sich die soziale Situation für die Mehrheit der Schwarzen real verschlechtert. Zugleich hat sich die informelle Rassentrennung weiter verschärft. So sind heute ausgerechnet die öffentlichen Schulen, Hauptadressat der Integrationsanstrengungen der Bürgerrechtsbewegung, wegen gezielter politischer Vernachlässigung, des korrespondierenden Aufschwungs der Privatschulen und nicht zuletzt des anhaltenden Rassismus vieler Weißer auch im Norden des Landes so vollständig nach "Rassen" getrennt wie in den Südstaaten vor hundert Jahren.

Die in den Predigten von Barack Obamas Pastor Jeremiah Wright spürbare Verbitterung hat insofern auch materielle Wurzeln. Dies scheint auch der voraussichtliche Präsidentschaftskandidat der Demokraten erkannt zu haben. Nachdem er das Thema Rassismus bei seinen Wahlkampfauftritten zuvor weitgehend ausgespart hatte, sah sich Obama wegen der Kontroverse um Wright zu einer Stellungnahme veranlasst. Am 18. März hielt er in Philadelphia eine Rede, in der er "den Makel der Erbsünde dieser Nation, die Sklaverei", offen ansprach und sich durchaus in der Tradition Kings auf die liberale Verfassung berief, "deren Kern ja das Ideal einer gleichberechtigten Teilhabe aller an den Bürgerrechten und der Gleichheit vor dem Gesetz ist".

Der im Vorwahlkampf so viel zitierte "Change" wird in der Tat erst dann möglich sein, wenn es gelingt, die gesellschaftlichen Spaltungen im Sinne der "liberal tradition" zu überwinden, wie es schon Martin Luther King und die Bürgerrechtsbewegung propagierten. Denn die Zeit für den Wandel ist, wie schon King wusste, mehr denn je "die wilde Dringlichkeit des Jetzt".

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