Tocotronic: "Dieses ganze scheiß Harmlosistan"
Tocotronic-Sänger Dirk von Lowtzow darüber, warum er immer noch wütend ist, warum seine Band faul ist. Und: Warum Kapitulation gegen neoliberale Zumutungen hilft.
taz: Brauchen die Deutschen ein Grundgehalt?
Dirk von Lowtzow: Wie bitte? Was?
Die viel diskutierte Grundsicherung, ein Existenzgeld.
Ach so. Ich bin kein guter Tagespolitik-Kommentator. Aber ja: Alle sollen alles bekommen. Warum fragen Sie?
Einige der Songs auf Ihrem neuen Album "Kapitulation" drücken doch eine Sehnsucht nach nichts tun müssen, mal nicht netzwerken, nicht alles schaffen müssen aus - greifen also durchaus in tagesaktuelle Debatten um Prekariat und Generation Praktikum ein.
Dirk von Lowtzow, 36, ist Sänger und Gitarrist der deutschsprachigen Band Tocotronic. Seit 1993 hat die Band acht Alben veröffentlicht. Mitte der 90er Jahre machten Tocotonic den langen Pony und die Trainingsjacke salonfähig. Die erfogreichste Band der "Hamburger Schule" äußert sich gern politisch und gesellschaftskritisch. Zusammen mit Thies Mynther von Stella macht von Lowtzow das Projekt Phantom/Ghost.
Nicht arbeiten zu müssen, das ist natürliche die schönste Utopie. Die verfechten wir und finden sie auch als philosophische Idee total wichtig. Es ist in Vergessenheit geraten, dass es einmal eine künstlerische Strategie gab, nichts zu tun. Und die möchten wir formulieren als Antithese zu diesem Leistungsimperativ, der neuerdings in dieser Gesellschaft herrscht. Das Unproduktive wird unterschätzt.
Gibt es denn wirklich Tage, an denen Tocotronic sagen können, was Sie in dem Lied "Luft" singen: Ja, ich habe heute nichts gemacht?
Haben wir total oft. Wir sind ja als Band wahnsinnig faul im Vergleich zu anderen. Selbst in den Schaffensphasen, also jetzt, wo man Festivals spielt oder tourt, machen wir immer noch nur ein Fünftel von dem, was andere Bands machen.
Aber Sie sind doch eine sehr fleißige Band! Sie bringen alle zwei Jahre eine neue Platte raus, und nebenbei haben auch alle Bandmitglieder noch ihre Solo-Projekte.
Ja, aber viele Sachen gehen ja auch sehr schnell, machen nicht so wahnsinnig viel Arbeit. Ich schreibe Texte relativ schnell - ich kann nicht so lang über etwas brüten, mir geht es mehr um eine Eleganz und um den Flow. Wir legen als Band schon Wert auf das Nichtstun und darauf, sich nicht vereinnahmen zu lassen. Ich finde es schrecklich, wenn Leute sagen: Ich bin in der glücklichen Lage, dass bei mir Arbeit und Freizeit zusammenfallen. Dann hat ja wirklich der Neoliberalismus gesiegt. Irgendwie muss man da aufpassen, dass man seine eigene Gewerkschaft ist.
Und deswegen setzen Sie jetzt gegen diesen Neoliberalismus die Kapitulation als Strategie?
Etwas nicht zu tun und die Waffen zu strecken, das ist auf jeden Fall eine Strategie. Weil man sich so den Anforderungen, die an einen gestellt werden, entzieht. Das ist ja so eine Bartleby-Idee.
Und wenn man dann kapituliert hat und wie der Schreiber Bartleby immer wieder gesagt hat "I would prefer not to", wie geht es dann weiter?
Das ist ja jetzt erst mal nicht unsere Aufgabe zu sagen, wie es da noch weitergeht. Jetzt sind wir ja erst mal froh, dass wir kapituliert haben. Und dann kann man kucken, wie man von da weiterkommt. Aber grundsätzlich: Wir haben mit der Platte eine künstlerische Äußerung getätigt, die erst mal keinen pragmatischen Nutzen hat. Dieses Album ist kein Lebensratgeber, sondern eine Rockplatte, also im Feld der Ästhetik angesiedelt.
Aber es ist doch klar, dass Fans, Hörer und Schreiber das mit der Kapitulation als Slogan rezipieren werden.
Wenn sich das jemand nimmt und sich da wiederfindet, dann finde ich das vollkommen in Ordnung. Dafür macht man den Scheiß ja, dass jemand damit was macht und das von mir aus auch umdeutet. Aber wir sind eine Band, die kein Sprachrohr sein will.
Man kann auch ungewollt zum Sprachrohr werden - etwa, wenn man mal gesungen hat "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" und eine ganze Menge Leute sich damit identifizieren konnte.
Wir finden es gerade interessant, nicht individualistisch zu sein. Es geht eher darum, das Individuum, das Subjekt zu zertrümmern. Mir ist es, ehrlich gesagt, egal, ob ich missverstanden werde. Die Texte sind nun mal vielseitig deutbar, was vielleicht gerade ihre Qualität ausmacht.
Das Vorgängeralbum "Pure Vernunft darf niemals siegen" war in dieser Hinsicht sicher offener, verträumter, vielleicht auch verspulter. Aber mit "Kapitulation" adressieren Sie die Leute doch wieder direkter. Man spürt wieder einen größeren Wir-wollen-was-sagen-Drang. Es gibt ja sogar ein Manifest zur Platte!
Es gibt auf der neuen Platte vielleicht mehr appellative Stücke, in denen direkt ein Du angesprochen wird. Aber ich habe auch "Pure Vernunft" nie als eskapistisch verstanden. Als eskapistisch empfinde ich, wenn man heutzutage als Texter darüber schreibt, wie schön das alles ist: mit der neuen Freundin zusammen zu ziehen und wie herrlich alles ist. Dieses ganze scheiß Harmlosistan, was sich um einen herum ausbreitet. Eskapistisch wird Schreiben, wenn es überhaupt keine Gefahren zulässt und kein Abgleiten in Abgründe.
Ein Song heißt allerdings "Harmonie ist eine Strategie".
Der wendet sich ja genau gegen diese Harmoniesucht, diesen ganzen Pärchenscheiß. Das war gedacht als eine Art marxistischer Slogan, eine aktuelle Ausgabe von "Religion ist Opium für das Volk". Man muss aber auch sagen: Dieses Stück verstehen wir selber nicht so ganz.
Ist das nicht gefährlich, einer Platte ein Manifest voranzustellen und dann die Songs auf der Platte selber gar nicht zu verstehen?
Natürlich ist das gefährlich, aber sonst wärs ja langweilig. Man muss sich doch selber auch mal überraschen können. Man muss doch auch vor sich selber erschrecken können.
Was war zuerst da: Das Manifest oder die Songs?
Es wäre schön, die Leute glauben zu machen, das Manifest wäre zuerst da gewesen. Aber es waren die Songs. Das war eher eine Notlösung, weil wir ewig überlegt haben, wer dieses Plattenfirmenanschreiben für die Presse machen könnte.
Den sogenannten Waschzettel.
Genau. Wir hatten immer sehr versierte Waschzettel, seitenlange Exegesen von Leuten, die wir oft auch kannten. Aber dann fand man sich in Interviews immer mit der Situation konfrontiert, einen Text erklären zu müssen, den man gar nicht geschrieben hat. Deshalb wollten wir das diesmal selbst machen. Aber da man schlecht seinen eigenen Kram interpretieren kann, kamen wir auf die Idee mit dem Manifest, auch weil das so schön überzogen ist. Ich habe das dann aus lauter Songauszügen zusammengebastelt.
Dieses Manifest feiert die Kapitulation als die größte aller Niederlagen und als größten Triumph - aber auch als "endgültige Unterwerfung". Unter was?
Es gibt ein schönes Moment in der Unterwerfung. In der Liebe zum Beispiel. Das ist ja auch ein immer wiederkehrendes Thema im Soul: sich jemandem hinzugeben und sich so zu unterwerfen. Aber ich finde es total müßig, dieses Manifest noch mal zu interpretieren, ich kann es auch gar nicht. Man hat doch mit dem Song oder mit so einem Manifest schon die bestmögliche Form für sich gefunden. Das ist wahnsinnig schmerzhaft und auch nicht unsere Aufgabe, unsere Sachen noch mal in anderen Worten darzustellen. Da muss ich echt kapitulieren.
Werden Ihre Texte also grundsätzlich überinterpretiert?
In Deutschland ist das wichtigste Werkzeug zur Erschließung eines Textes die Interpretation. Das lernt man so in der Schule. Aber ich lehne dieses Werkzeug total ab. Es ist doch einfach interessanter zu gucken: Wie ist die Struktur von Text, was setzt das in mir frei? Die Grundidee von Interpretation ist aber: Da gibts etwas, was der Künstler uns sagen will, aber irgendwie verklausuliert er das, und die Aufgabe ist jetzt, diese Metaphern wieder zu entdröseln. Mit dieser Methode kommt man aber oft überhaupt nicht weit. Ein Stück wie "Mein Ruin" steht eben nicht dafür, wie es mir zu einem bestimmten Zeitpunkt ging, sondern es steht für das, was es ist, mit all seiner Eleganz vielleicht und seiner bestimmten Ausstrahlung. Ich will nicht, dass die Leute hören "Mein Ruin" und denken: Eigentlich sagt er jetzt
Hilfe, ich brauche eine Psychotherapie.
Genau.
Überrascht es Sie, wie bereitwillig sich die Medien mit Ihrem Manifest beschäftigen?
Ich kann das nicht erkennen, dass jetzt ein wahnsinniges Rauschen durch den Blätterwald ginge. Aber klar: "Kapitulation" ist ein sehr radikaler Plattentitel. Deshalb haben wir ihn auch gewählt. Und er richtet sich natürlich gegen den Zeitgeist, weil er die Gegenposition darstellt zu diesem optimistischen Imperativ. Und den, das kann ich in aller Deutlichkeit sagen, finde ich entsetzlich und abscheulich. Denn er führt zu einer totalen Überforderung der Menschen, weil alle immer alles sein müssen, unheimlich flexibel, und dabei noch Spaß haben sollen. Jeder Hartz-IV-Empfänger soll noch wahnsinnig gut drauf sein.
Also stimmt es: Tocotronic sind zurück im Zorn?
Beim Schreiben war schon wahnsinnig viel Wut und Trotz dabei, auch Spaß an der Wut. Wir wollten schon einiges sagen gegen den allgemeinen Zeitgeist.
Wird man mit dem Alter nicht milder?
Ich nicht! Bei uns wird sich schon oft echauffiert. Das Album hat ja auch etwas sehr Kriegerisches, viele Metaphern aus der Kriegskunst: Kapitulation, Strategie, Explosion et cetera. Es hat ein Aggressionspotenzial. Es soll auch radikal sein oder krass. Ein Statement gegen diese schreckliche Emo-Kultur.
Finden Sie es wirklich "Emo", wenn man in einem fort aufgefordert ist, an sich zu arbeiten, sich zu entfalten, dauernd zu kommunizieren, kreativ zu sein?
Nein, ich meinte das Musikalische. Da kann es doch im Moment gar nicht biografistisch und persönlich genug sein. Es dreht sich doch alles nur um so komische Befindlichkeiten. Und steht genau deswegen auch nicht im Widerspruch zur Leistungsgesellschaft, die ja genau das einfordert. Deswegen ist doch musikalisch gerade alles so unglaublich harmlos, so weit von Punk weg, wie es nur irgend geht.
Und da sagen einfach Sie mal wieder: Fuck it all!
Wir hatten schon das Konzept, so eine Art Punkrockplatte zu machen, ohne in diese üblichen öden Punkredundanzen zu verfallen. Einfach, weil wirs lange nicht gemacht haben und weil es wahnsinnig Bock gebracht hat. Das haben wir in den letzten Jahren ja ein bisschen vernachlässigt, weil uns dieser ganze Rock-Scheiß so angeödet hat, uns fast schon reaktionär vorkam. Man muss sich doch die neuesten Rockplatten nur mal anhören: total überproduziert, völlig verschnitten und superakkurat.
Also haben Sie im Studio nicht so viel mit dem Computer gearbeitet und 50 Gitarren übereinandergeschichtet, sondern eher so ein Antiexaktheitskonzept gefahren?
Genau, die Platte ist extrem unexakt. Wir wollten so eine gewisse Lebendigkeit erreichen, durch Fehlerhaftigkeit und Schludrigkeit. Sie sollte altmodisch und rumpelig klingen, so ähnlich wie die letzte, tolle Neil-Young-Platte.
Haben Sie deshalb auch das kürzeste und deswegen radiountauglichste Stück der ganzen Platte, "Sag alles ab", als erste Single ausgekoppelt?
Ja, das hat uns schon ganz gut gefallen! Gerade weil es nicht im Radio gespielt werden kann.
Die zweite Single dagegen, das Titelstück "Kapitulation", ist ein unglaublicher Ohrwurm. Da freut sich doch das Radio.
Auch das wird nicht gespielt werden. Radio ist ein wahnsinnig rigides und reaktionäres System: Alles, was aus dem normalen Rahmen heraus fällt, findet da keinen Platz. Deswegen fristen wir ja auch weiterhin ein Nischendasein, weil die Feuilletons, die Musikpresse und die Stadtmagazine einfach nicht so relevant sind für den breiten Markt.
Aber die Plattenverkäufe sind in der Kalkulation heute doch sowieso längst nicht mehr so wichtig wie die Konzerte.
Das ist so - und das ist eine sehr ungute Entwicklung. Denn in der Idee des Albums liegt ja ein extrem hoher emanzipatorischer Gehalt. Bei aller Liebe zu den Konzerten: Das ist doch Reproduktion. Man spielt immer nur das, was man schon aufgenommen hat. Livekonzert bedeutet eben: Man tritt in eine Arena, wird angeguckt, die Leute wollen was bekommen für ihr Geld. Das ist auch okay so, aber kreativ ist es nicht. Es hat ja seinen Grund, warum Anfang der Sechzigerjahre mit dem Aufkommen der Langspielplatte Künstler - von den Beatles bis Glenn Gould - gesagt haben: Wir gehen nicht mehr raus, Konzerte sind die Reproduktion des Ewiggleichen, wir verschanzen uns im Studio und genießen die Freiheiten dieser Sache. Deshalb sehe ich die Entwicklung, dass man sein Geld nur noch mit Livekonzerten verdienen kann, nicht nur positiv.
Was wäre denn die Strategie, dem zu begegnen?
Die gibt es halt nicht! Ich kann nur sagen: Viel live spielen ist wahnsinnig anstrengend, es ist extrem aufreibend, man kann das vielleicht auch nicht mehr so lang machen. Dagegen ein Album als Kunstwerk zu sehen, das hat schon ein extrem emanzipatives Potenzial. Und wenn das wegfällt, ist es traurig. Wir sind vielleicht ein Medienphänomen, aber im Vergleich zu anderen Bands verkaufen wir wirklich wenig. Wir sind Helden zum Beispiel verkaufen locker mal das Zehnfache.
Wird das Album demnächst als ästhetisches Format aussterben?
Ich weiß es nicht, ich bin da zu wenig seherisch veranlagt. Werden bald nur noch einzelne Hits ins Netz gestellt? Vielleicht kommt das Album auch wieder zurück, wer weiß. Mich regt halt nur dieses Gelalle auf, dass die Wiederkehr des Live-Spielens so toll sei. Dabei ist das nur Event-Kultur. Ach, vielleicht ist es auch einfach nur ein bisschen frustrierend, wenn man so lange an einem neuen Album arbeitet und dann kommt so wenig dabei rum.
INTERVIEW: KIRSTEN RIESSELMANN UND THOMAS WINKLER
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