Tja, Freimarkt (11): Christian Wolf : Was bleibt
Einmal im Jahr ist Freimarkt – aber muss man darüber schreiben? Kommt auf die Perspektive an, beweist die taz.bremen-Serie.
In jenen letzten Oktobertagen erwacht in einem Krankenhauszimmer Rita Seidel. Sie weiß gleich wieder, was mit ihr geschehen ist. Sie hat noch undeutlich ein Gefühl von großer Weite, auch Tiefe. Aber man steigt rasend schnell aus der unendlichen Finsternis in die sehr begrenzte Helligkeit. Ach ja, der Freimarkt. Enger noch: die Achterbahn im Dunkeln, das Black Hole. Jener Punkt, wo ich umkippte.
Das war das Letzte. Aber der Arzt braucht nicht zu fragen, er weiß ja alles, es steht auf dem Unfallblatt. Diese Rita Seidel, keine Schaustellerin, arbeitete nur als Aushilfe auf dem Freimarkt. Sie ist manches nicht gewohnt. Der Lärm, die Betrunkenen – kein Wunder, zart wie sie ist. Und dann der Losverkäufer von nebenan: „Herrrrreinspaziert, meine Damen und Herren, Gewinne, Gewinne, Gewinne!“ Dabei gab es gar nichts zum Hereinspazieren, sondern nur einen großen, offenen Stand voller Plüschtiere, und die Damen und Herren waren Kinder.
Nun heult sie, auch das kennen wir. „Der Schock“, sagt der Arzt und verschreibt Beruhigungsspritzen. Als Rita immer noch nicht verträgt, dass man sie anspricht, wird er unsicher. Er denkt, wie gern er den Kerl unter die Finger kriegen möchte, der dieses empfindsame Mädchen so weit gebracht hat. Für ihn steht fest, dass nur Liebe ein junges Ding so krank machen kann. Ritas Mutter kann keine Auskunft geben. Ein Mann? Nicht, dass sie wüsste. Der frühere ist doch schon ein halbes Jahr weg. Weg, fragt der Arzt. Nun ja: Abgehauen, Sie verstehen.
Rita bekommt Blumen, bunte Tupfer im bleichen Krankenhaustag. Niemand darf zu ihr, bis sich eines Abends ein Mann mit einem Rosenstrauß nicht abweisen lässt. Der Arzt gibt nach. Hier kann vielleicht ein Reuebesuch den ganzen Kummer auf einmal heilen. Ein kurzes Gespräch unter seiner Aufsicht. Aber da kommt nichts von Liebe, so etwas merkt man doch, und wäre es an den Blicken. Von irgendwelchen Gewinnen ist die Rede, was nun jetzt weiß Gott nicht wichtig ist, und nach fünf Minuten artiger Abschied.
Der Arzt erfährt, dass dies der Besitzer vom Losgeschäft war. Er wird das Gefühl nicht los, dass dieser junge Mann mehr von der Patientin weiß als die Mutter. Es kann für ausgeschlossen gelten, dass die Patientin einsam gewesen ist. Die da zu ihr kommen, haben sie alle gern. Sie weint jetzt seltener, meistens abends. Sie sagt niemandem, dass sie Angst hat, die Augen zuzumachen. Sie sieht immer noch die Waggons, grün und schwarz und sehr groß. Wo sie fahren, da liegt sie. Da liege ich. Dann weint sie wieder.
Sanatorium, sagt der Arzt. Soll sie zur Ruhe kommen, soll Gras über alles wachsen. Ehe sie entlassen wird, bedankt sie sich beim Arzt und bei den Schwestern. Alles Gute.
Ihre Geschichte ist banal, denkt sie. Übrigens liegt sie hinter ihr. Was noch zu bewältigen wäre, ist dieses aufdringliche Gefühl: Die vom Freimarkt, die zielen genau auf mich.