Tierschutz in Niedersachsen: Den Schnabel behalten
Auf ersten Modellhöfen in Niedersachsen werden die Hühner nicht mehr verstümmelt. Bis 2018 soll das die Regel sein. Aus der Sicht von Kritikern reicht das nicht.
OLDENBURG taz | Vor gut einem Jahr legte der niedersächsische Landwirtschaftsminister Gert Lindemann (CDU) seinen 38 Punkte umfassenden Tierschutzplan vor, und wenn der Dioxinskandal nicht gewesen wäre, hätte er schon im Frühjahr 2011 auf dem alle zwei Jahre vom Landesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (Laves) veranstalteten Tierschutzsymposium vorgestellt werden können. Das musste seinerzeit verschoben werden und findet in dieser Woche in Oldenburg statt. Aber durch die Verzögerung gibt es nun Bewegung zu vermelden: Auf einigen Modellhöfen dürfen sich erste Hennen darüber freuen, ihren Schnabel in einem Stück behalten zu dürfen.
Die „Schnabelkupierung“ soll Federpicken und Kannibalismus in den Herden vermindern; dass der Eingriff für das Tier schmerzhaft ist, steht außer Frage. Derzeit werden in Deutschland „bei nahezu 100 Prozent der Legehennen in Boden- und Freilandhaltung prophylaktisch die Schnabelspitzen gekürzt“, sagte die Tiermedizinerin Birgit Spindler in ihrem Vortrag. Bis 2018, so sieht es der Tierschutzplan vor, solle ein genereller Verzicht auf diesen Eingriff durchgesetzt werden.
An elf Pilotbetrieben werde dieser Verzicht derzeit unter wissenschaftlicher Begleitung getestet, sagt Sabine Petermann, Leiterin des Tierschutzdienstes im Landwirtschaftsministerium. Für Hennen habe man nach den Erfahrungen aus Österreich, das die Schnabelverstümmelung 2009 verboten hat, ein „Ausstiegsszenario bis 2016“ entwickelt. Vier Jahre – ein „ambitioniertes Ziel“, sagt Petermann.
Ob es auch ein realistisches ist, wird mitunter bezweifelt. Hermann Focke, langjähriger Veterinäramtsleiter und Kritiker der Massentierhaltung, nennt den Lindemannschen 38-Punkte-Plan einen Etikettenschwindel: „Die Ziele sind nur durchsetzbar, wenn die Haltungsbedingungen sich ändern“, sagt er. Sprich: Solange ein Huhn auf einer Fläche leben muss, die etwas mehr als ein DIN-A4-Blatt umfasst, ist ein Ausstieg aus der Schnabelkupierung nicht genug.
Ähnliches dürfte für Schweine gelten, die aufgrund von Platz- und Beschäftigungsmangel zum Schwanzbeißen neigen. Und zur Behebung der Missstände sei auch die Zucht gefordert: „Es muss weniger auf Leistung und vielmehr auf Gesundheit gezüchtet werden“, findet Focke.
In Niedersachsen, einem stark von industrieller Tierhaltung geprägten Land, hat bislang eher die Leistung im Vordergrund gestanden. Tierschutz sei oft nur als „Spagat zwischen Notwendigkeit und Praxis“ umsetzbar, sagt Focke, die Lobby sei hier „extrem stark“. Die Vorgängerin von Lindemann im Ministeramt, Astrid Grotelüschen (CDU), war selbst eine Vertreterin der Putenindustrie.
Der Staatssekretär im Landwirtschaftsministerium, Friedrich-Otto Ripke, bezeichnet diesen Konflikt als „vordergründig“ – schließlich würden auch die Produzenten zunehmend erkennen, dass Tierschutz auch für das Marketing wichtig sei.
Am Tierschutzplan seien zudem verschiedene gesellschaftliche Gruppen beteiligt, von den Kirchen über Bioverbände bis zum Tierschutzbund, und der Plan sei durchaus umfassend angelegt: „Es gibt keine Tabus“, sagt Ripke. Allerdings, fügt er hinzu, müsse man auch die „Wettbewerbsfähigkeit im Auge behalten“: Dem Tierschutz sei „nicht geholfen, wenn Arbeitsplätze ins Ausland verlagert“ werden.
Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen
Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Leak zu Zwei-Klassen-Struktur beim BSW
Sahras Knechte
Klimaneutral bis 2045?
Grünes Wachstum ist wie Abnehmenwollen durch mehr Essen
Nach Hitlergruß von Trump-Berater Bannon
Rechtspopulist Bardella sagt Rede ab
Bildungsforscher über Zukunft der Kinder
„Bitte nicht länger ignorieren“
CDU-Chef Friedrich Merz
Friedrich der Mittelgroße
Wahlentscheidung
Mit dem Wahl-O-Mat auf Weltrettung