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„Tiefe Spalten durchziehen die Erde“

■ Mitglieder der Bürgerbewegung „Nevada-Semipalatinsk“ zu den Folgen der Atomtests

Am 4.Mai 1989 kamen zum ersten Mal Menschen in das Testgebiet hinein. Olzhas Suleimanow, der heutige Vorsitzende unserer Bewegung, und drei Journalisten hatten die Gelegenheit erhalten, ins Testgebiet zu reisen. Wir sind in einem Hubschrauber über das Gebiet geflogen. Unter uns lag die kasachische Steppe in scheinbarem Frieden, aber man sah der Erde ihre Wunden und ihren Schmerz an. Ich habe das Bild immer noch vor Augen. Tiefe Spalten durchziehen die Erde, die an beiden Seiten eingefallen sind. Das Gebiet ist stark verseucht, ganz anders als uns die Militärs jahrzehntelang weismachen wollten. Über 700 Atomexplosionen wurden in den letzten 40 Jahren durchgeführt — allein 94 Tests im Jahr der Kuba-Krise.

Es ist nahezu bewiesen, daß in jeder Familie mindestens eine Person oft mehrere an Krebs sterben, auch ganz junge Menschen. Es ist gewiß nicht übertrieben zu sagen, daß die ansässige Bevölkerung möglicherweise vor dem Aussterben steht. (Kalina Kuzembaewa)

Die nächste Ansiedlung vom Testgelände befindet sich etwas mehr als 35 Kilometer entfernt. Der Gesundheitszustand hat sich dort dramatisch verschlechtert, die Lebenserwartung ist um durchschnittlich fünf Jahre gesunken. Wir können nur Vermutungen anstellen, wie viele Kinder in den letzten Jahren mit schweren Geburtsfehlern zur Welt gekommen sind. In den vergangenen zehn Jahren ist insbesondere unter jungen Leuten die Selbstmordrate beängstigend in die Höhe geschnellt. Allein in der Sowchose mit dem Namen Thälmann haben sich 22 junge Leute das Leben genommen.

„Wir haben unsere Lage und unsere Tragödie erst erkannt, als wir zu sterben begannen. Zuvor war uns das Problem nicht bekannt. Uns wurde ja von der Regierung eingeredet, daß wir stolz sein sollten, in einem Gebiet mit solchen technischen Hochleistungen leben zu dürfen.“ (Hafiz Mataev)

„Unser Schmerz ist ja nicht nur unser Problem allein. So wie die Tests von Atombomben in Kasachstan stattgefunden haben, geschah es auch in Amerika, in Nevada. Daher wollten wir mit unserer Namensgebung eine Brücke schlagen zwischen zwei Kontinenten, auch zwischen zwei Weltmächten. Mit dieser Friedensbrücke wollen wir den Politikern nicht nur die entsetzlichen Auswirkungen der Tests vor Augen führen, sondern auch die Notwendigkeit, daß alle Tests, auch die unterirdischen, gestoppt werden.“ (Satimgan Sanbaew)

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