Thierses umstrittene Äußerung: Ein primitiver Impuls
Mit seinem fragwürdigen Satz zum Schicksal der Hannelore Kohl hat sich Wolfgang Thierse Rücktrittsforderungen eingehandelt. Aber ist das Private nicht auch politisch?
Die Entschuldigung war fällig. Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse hat sich von einem sehr primitiven Impuls hinreißen lassen, als er Helmut Kohl mit dem Satz kritisierte, er habe seine kranke Frau "im Dunkeln sitzen lassen". Eine billige Metapher, die Kohls gesamte Eheführung treffen musste: Kohl hat seine Frau in der Finsternis ihrer Einsamkeit sitzen lassen. Der Grund für die Verdunklung war selbstverständlich nicht Kohl, sondern die starke Lichtallergie seiner Frau, wie Thierse weiß. Die Entschuldigung war umso mehr fällig, als Thierse um den Resonanzraum wissen musste, in dem die Äußerung fällt.
Es ist der Raum der Assoziationen und Spekulationen, der Hannelore Kohls Ehe, ihre Krankheit und ihren Suizid umgibt. Man erinnert sich, dass Hannelore Kohl einmal mitteilte, von den Hunden habe sie gelernt, endlos zu warten und sich immer noch zu freuen, wenn der Mann endlich nach Hause kommt. Das Ehemodell Kohl scheint eines gewesen zu sein, von dem Helmut Kohl mehr profitierte als Hannelore Kohl. Dass dies Hannelore Kohl krank gemacht haben könnte, ist allerdings eine Interpretation, die das Leben wie einen Roman liest und Frau Kohl als Symbolfigur nimmt. Ob das mit der Realität etwas zu tun hat, kann niemand sagen. Und schon gar nicht kann man Helmut Kohl die Schuld an diesem Schicksal zuschreiben. Wenn Hannelore Kohl nicht nur Opfer einer Krankheit, sondern eines Lebensmodells war, dann war es eines, das sie selbst gewählt hat.
Bleibt die Frage, wie ein Partner mit der schweren Krankheit seiner Partnerin umgehen soll. Das ist, mit Verlaub, kein Thema für eine parteipolitische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit. Ohnehin sind die Schicksale Münteferings und Kohls nicht vergleichbar. Hannelore Kohls Lichtallergie war chronisch. Wie oft und wie lange muss, kann, soll jemand mit seinem chronisch kranken Partner in einem dunklen Bungalow sitzen? Auch Herr Thierse würde sich sicher kein Urteil in dieser Frage erlauben, zumal er nicht weiß, wie oft Helmut Kohl dort gesessen hat.
Frau Müntefering dagegen ist in einer akuten gesundheitlichen Krise, deren Ende Müntefering bereits in Aussicht gestellt hat. Über einen begrenzten Zeitraum lässt sich sicherlich leichter entscheiden als über einen unbegrenzten. Und diese privaten, einzelnen Entscheidungen sind in einem politischen Zusammenhang mit Sicherheit nicht zu beurteilen.
Wieder entzündet sich ein Skandal bis hin zu Rücktrittsforderungen an der Schnittstelle von Privatem und Politischem. Kann man einem Politiker sein Privatleben vorwerfen? Und wann und inwiefern ist das Private nun politisch? Hat, um es einmal polemisch zuzuspitzen, die Frauenbewegung gewollt, dass Thierse nun Kohl für seine Eheführung angreift?
Nun, so war es offenkundig nicht gemeint. Das private Leben ist eine politische Kategorie, weil die Politik private Leben beeinflussen und lenken kann. Die Fragen, ob Frauen abtreiben dürfen, ob ihnen Kinderbetreuung zur Verfügung steht, ob sie in der Ehe vergewaltigt werden dürfen, sind private Fragen, die erfolgreich politisiert wurden. Wenn die Politik eine gesellschaftliche Struktur mitformt, in der Frauen massenhaft zu Hause sitzen und wie die Hunde auf ihre Männer warten, dann ist auch dieses Private politisch. Wie strukturiert die Politik das Privatleben? Das ist die Frage, die immer wieder politisiert gehört. In solchen strukturellen Zusammenhängen kann man das Leben von einzelnen Frauen und sogar Politikergattinnen analysieren.
Was nicht geht, ist, für diese Strukturen, die sicher auch Hannelore Kohls Leben mitgeformt haben, öffentlich einen einzelnen Mann an den Pranger zu stellen. Nun pflegen Kohl und Thierse ohnehin ein öffentliche Feindschaft. Und sind in politisch konkurrierenden Parteien. Wer für eine solche Auseinandersetzung das Schicksal von Hannelore Kohl missbraucht, muss sich über Rücktrittsforderungen nicht wundern.
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