Theresa Hannig Über Morgen: Stell dir vor, es ist Wahlkampf und plötzlich geht es wirklich um Inhalte
Bei einem gemeinsamen Spaziergang bestaunt mein zeitreisender Freund Felix die vielen Wahlplakate. Mir fällt die Begeisterung angesichts bestimmter Parolen schwer. Außerdem nervt mich die Flut an immer gleichen Porträts und Sprüchen der einen Partei, neben der die vielen anderen Parteien klein und bedeutungslos wirken. So als hätte die Masse der Wahlwerbung etwas mit Kompetenz zu tun. Dass zudem viele Plakate verschmiert oder zerrissen sind, macht die Sache nicht besser. Da haben ein paar Leute Demokratie nicht verstanden!
Als Felix ausgiebig ein mannshohes sehr blaues Plakat bestaunt, reißt mir der Geduldsfaden: „Warum fasziniert dich das so?“, frage ich ihn. „Im Jahr 2125 wird’s doch sicher bessere Kampagnen geben.“
„Nein. Diese Art von Wahlwerbung ist so gut wie verboten“, sagt er.
„Oje, dann ist die Demokratie doch gescheitert?“
„Im Gegenteil! Aber bei diesen Wahlplakaten geht es ja nicht um Inhalte und das, was wirklich in den Wahlprogrammen steht, sondern nur um Aufmerksamkeit.“
„So wie bei jeder Werbung.“
„Aber Demokratie ist kein Produkt, das man kaufen kann“, antwortet er, und ich weiß nicht, ob ich lachen oder weinen soll. Stattdessen sage ich: „Die USA haben gerade das Gegenteil bewiesen.“
„Mag sein, aber bei uns endet die Sache anders“, sagt Felix und holt ein wenig aus. „Es ist so: In naher Zukunft denkt sich ein deutscher Milliardär ‚Was Musk kann, kann ich schon lange!‘ und spendet 3,5 Milliarden Euro für den Bundestagswahlkampf der … nennen wir sie XYZ-Partei. Also wird das ganze Land mit Wahlwerbung zugekleistert. Keine Anschlagstafel, kein Laternenmast, kein Parkverbotsschild an dem nicht ein Plakat von XYZ hängt. Es sind so viele, dass man die Straßenschilder kaum noch erkennen kann, was zu Unfällen und langen Staus führt. Und weil dann immer mehr Leute die Poster herunterreißen, türmen sich bald Berge von Papierschnipseln in den Straßen. Im Regen werden die dann zu zähem Papierschlamm, der Gullys verstopft und zu katastrophalen Überschwemmungen führt.“
„Lass mich raten: XYZ schneidet bei der Wahl nicht so gut ab?“
„Exakt! Am Wahltag haben die Leute einen solchen Hass auf die Partei XYZ, dass sie ihr nicht mal ein Prozent der Stimmen geben. Die neue Bundesregierung reagiert prompt und verbietet wilde Wahlwerbung im öffentlichen Raum. Ab sofort dürfen Parteien, die zu einer bestimmten Wahl zugelassen sind, nur noch an gekennzeichneten Orten plakatieren – und jede Partei gleichviel. Online sorgen Faktenchecker-KIs dafür, dass Lügen oder irreführende Informationen gelöscht werden. Deshalb konkurrieren die Parteien bald um die besten Autor*innen, die ihre Wahlprogramme verständlich und gleichzeitig so spannend formulieren, dass sie zu Bestsellern werden.“
Da werde ich natürlich aufmerksam – aber Felix erzählt schon weiter.
„Und weil Demokratie ein Gemeinschaftsprojekt ist, bei dem man mindestens so viel Verantwortung trägt wie beim Autofahren oder dem Benutzen einer Motorsäge, müssen alle Wahlberechtigten einen Demokratieführerschein machen, um zur Wahl zugelassen werden. Darin wird wie beim Einbürgerungstest Grundwissen über die freiheitlich demokratische Grundordnung, die Menschenrechte und die deutsche Geschichte abgefragt – alle zehn Jahre muss der Führerschein erneuert werden. Bei uns ist Demokratie kein Produkt mehr. Es ist ein Privileg, auf das die Deutschen genauso stolz sind, wie früher auf ihr Auto.“
Theresa Hannig, 40, ist Science-Fiction-Autorin, Politikwissenschaftlerin, Grünen-Stadträtin und ehemalige Softwareentwicklerin.
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