Theaterstück „Einer geht noch“: Ein Kampf auf Tod und Tod

Der Schauspieler Mateng Pollkläsener hat Polyneuropathie. Er weigert sich aber, darunter zu leiden. Am Sonntag gibt er ihr auf der Bühne Saures.

Ein Mann, Mateng Pollkläsener, geht, das Gesicht an einen altmodischen Lederkoffer gepresst von links nach rechts

Mateng Pollkläsener lässt sich nicht aufhalten auf dem Weg zur Bühne Foto: theatre du pain

BREMEN taz | Diesen Moment wird es also geben, im Stück. Irgendwann werden die beiden ineinander verknäult und verbissen über die Bühnen rollen. Oben, dann unten, dann wieder oben: Mateng Pollkläsener, der sich selbst spielt. Und in ihn verhakt und verklammert: PNP, also die Polyneuropathie, die seine ist. Eine erbarmungslose Klopperei ist das, wild und ohne Regeln, kratzen, beißen, spucken, treten, alles, bis aufs Blut, im Stück „Einer geht noch“, das am Sonntag im Bremer Schauspielhaus Premiere feiern wird.

Längst hat Pollkläsener die Papp­krone verloren, und der rote Samt-Imitat-Umhang trollt auf dem Boden, sein ganzes König Ubu-Kostüm aus einer anderen Produktion, das der Schauspieler sich doch gerade erst übergestreift hat auf der Probebühne, die ein bisschen abgeranzt ist, wie jede Probebühne: Ein Lampenhalter mit blauer Glühbirne steht da, Bierkisten, ein Beutelstaubsauger, manches ist Requisit, manches Schrott.

Die Prügelei zwischen PNP und Pollkläsener ist ein Kampf ohne Rücksicht auf Verluste, ein Kampf um alles, um Leben und Leben, auf Tod und Tod. Denn beide können ja ohne einander nicht sein: Erst wenn er selbst stirbt, ist es auch mit Pollkläseners PNP vorbei, die ihn versucht unterzukriegen. Solange Mateng Pollkläsener lebt, wird er auch diese tückische Krankheit nicht besiegen können, diese unverwüstliche Diagnose oder lästige Behinderung.

„Behinderung ist das bessere Wort“, sagt Walter Pohl, während die Regie mit Pollkläsener über einen Gesichtsausdruck nachdenkt: Hier einen Moment des Zögerns, ein Blick ins Publikum, gib ihnen den Zorn.

Heilung gibt es nicht

Pohl wird, gleiches Baumfällerhemd wie Pollkläsener, gleiches klobiges Schuhwerk, im Stück die PNP spielen. Krankheit würde ja meist mit dem Gedanken an Heilung verknüpft, „die es hier nicht gibt“, sagt er. Und Mateng Pollkläsener behindern, sein Sprechen hemmen, seine Schauspielerkarriere stören, seine Bewegungen limitieren, das sei nun mal genau, was er in seiner Rolle tue, als Poly­neuropathie.

Polyneuropathie steht im Lexikon und selbstverständlich auch auf Wikipedia, und massig Fachliteratur existiert auch. Sie ist also kein böser Bühneneinfall, sondern es gibt sie wirklich. Richtig schlau wird man aus den Einträgen nicht: Das Bild ist diffus, Lähmungen, Empfindungsstörungen gehören zu den Symp­tomen, Kribbeln in den Beinen und/oder Armen, Muskelschwäche, Muskelkrämpfe und Lähmungen, Störungen der Blasenentleerung, Verstopfung oder Durchfall. Manche haben dauernd Schmerzen.

„Das habe ich nicht“, sagt Mateng Pollkläsener in der Probenpause. „Das ist mein Glück.“ Mitte der 1990er-Jahre hat er seine Diagnose bekommen. Bei ihm fing es in den Beinen an. „Es war so ein komisches Gefühl unter den Füßen“, sagt er. Damit geht er zum Orthopäden. Der schickt ihn dann zum Neurologen.

Was bei PNP passiert, ist, dass sich die Nervenzellen abbauen, aus dieser oder jener Ursache. Mal ist ihr Myelin betroffen, also die Hülle, mal ihr Axon, über das die Reize in den Kern geleitet werden. Es sind diejenigen Nervenzellen betroffen, die nicht im Rückenmark und Hirn sitzen, sondern an den Extremitäten, aber welchen, bleibt unbestimmt. Sie ist erblich, man kann sie aber auch erwerben.

Das Ganze ist ein weitgehend unverstandener Prozess, und erfolgreich behandeln lässt er sich nicht, geschweige denn stoppen. Nicht gerade toll für jemanden, der Schauspieler ist, wie Mateng Pollkläsener. Nein, kaum aus Film und Fernsehen bekannt oder Werbespots – hätte ihm das die PNP vermasselt? – und auch nur ein paar Spielzeiten lang am Bremer Theater fest engagiert.

Aber ein großer Schauspieler ist er ganz sicher, wenn Unverwechselbarkeit Größe bedeutet in der darstellenden Kunst. „Ich bin Autodidakt“, sagt Pollkläsener, als wäre das noch wichtig nach etwas über 35 Jahren Bühnenleben, von denen „Einer geht noch“ handelt und in dem er König Ubu war, der Vorgriff des 19. Jahrhunderts auf den 45. US-Präsidenten, und Käpt'n Ahab.

Das Stück geschrieben hat Hans König. Es ist, das ergibt sich fast zwangsläufig, eine Revue, eine Ein-Personen-Revue mit lauernder Allegorie. Und es ist angemessen verrückt: Der Kunstgriff, die PNP zur Bühnenfigur zu machen, halb Stalkerin, halb Teufelin, mephistophelische Geliebte, ist einer des Mysterienspiels, in dem im Mittelalter, Tugenden, Laster und Todsünden durch die Vorstellungen tanzten. Surrealismus und Dada haben diese Praxis Anfang des 20. Jahrhunderts wiederbelebt, möglicherweise auch das Fin de Siècle, Hugo von Hofmannsthal et al.

Aber Dada ist schon das richtigere Stichwort: Mateng Pollkläsener und Hans König bilden zusammen mit Wolfgang Suchner das Theatre du Pain, sie haben es gegründet, und das muss hier kurz erklärt werden, auch wenn das Stück keine Theatre-du-Pain-Produktion ist. Dieses Ensemble kann mit Fug und Recht als neodadaistisch bezeichnet werden. Von Bremen aus hat es ab 1984 fröhlichste Bedeutungsverweigerung betrieben: Albern, fäkal, brachial, schamlos und verzweifelt, wie echte Komik immer.

„Mythen sind nichts anderes, als der Versuch, fundamentale Ängste zu mildern“, doziert Pollkläsener, knackt einen Floh, den er am Bauch entdeckt, und steckt ihn in den Mund

Denn es sind metaphysische und logische Probleme, vor die das Absurde die unerbittlich sinnvoll geordnete Welt stellt. Und in einem bekloppten Lied über Leberwurst, die etwas für den Durst wäre, schwingt eben doch auch die Skepsis mit, „ob die Dinge, die man uns aufs Brot schmiert, wirklich die Dinge sind, für die wir sie halten“, wie Hans König, der Dichter und Regisseur das mal gesagt hat.

Die Probe ist am Abend, die Pause draußen, schmaler Gang vom Vorgarten zur Haustür, Platz für Fahrräder und Mülltonnen. Eine Amsel hasst vor sich hin, die Sonne ist perdu. „Einer geht noch“ sei „kein Stück über Krankheit oder Behinderung“, erläutert König. „Es ist ein Stück über den Umgang damit.“ Das mag wohl so sein.

Es ist aber zugleich auch ein Stück über Mateng Pollkläsener, und zwar fast gar nicht den Privatmenschen, der kommt nur in seiner Bestimmung als gewesenes Kind und geborener Ostwestfale zur Sprache. Sondern über den Schauspieler Mateng Pollkläsener, den die Polyneuropathie mit einem bizarren Gang begabt hat, der so komisch aussieht, dass die Leute darüber lachen müssen.

Der Anzugträger mit Kettensäge

Und weil es ein Stück ist über Mateng Pollkläsener, den Performer, ist es notwendigerweise auch eins über das Theatre du Pain, denn „für mich ist es das Elixier“, sagt er. Und umgekehrt fungiert er als dessen Kraftquelle: weil er ja den Wahnsinn leben kann auf der Bühne. Den fröhlichen ebenso wie den bedrohlichen.

Wahrscheinlich wäre Pollkläsener das auf jeder Bühne, weil er so explosiv seine Rollen ausfüllt: Er bringt, scheinbar mühelos, einander entgegengesetzte Extreme zusammen und lebt sie aus. Das macht ihn so unberechenbar. Er kann ein Anzugträger sein, der plötzlich, aus einem wortlosen inneren Beschluss heraus, die Kettensäge anlässt, durchs Publikum wankt und auf der Bühne mit dem Mordinstrument Eier zerteilt.

Er kann der Steinzeitmensch sein, der sich gestisch und mimisch wie das Abziehbild eines Cromagnon-Manns verhält, sich kratzt, sein Gegenüber beriecht und sich selbst, und diesem in wohlgestanzten Phrasen eines hochakademischen Diskurses über die Frühzeit berichtet: „Angst ist das Agens schlechthin“, belehrt er den Fragesteller in religionspsychologischer Manier: „Mythen sind nichts anderes als der Versuch, fundamentale Ängste zu mildern“, doziert er, knackt einen Floh, den er an seinem Bauch entdeckt und steckt ihn in den Mund.

Uraufführung: So, 14. 9., 18.30 Uhr, Theater Bremen, Kleines Haus.

Weitere Termine: 21.9., 20 Uhr, Theater Bremen; 3.-6.10., Blaumeier-Atelier, Bremen

„Einer geht noch“ lässt Pollkläsener diese Bravourstücke noch einmal aufführen, gibt ihm Raum für sein Repertoire. Aber wenn er sich austobt, kommt doch die PNP und unterbricht ihn dabei: „Aber wie soll das weitergehen?“, fragt sie ihn dann. „Wo werden wir in fünf Jahren sein, mein Lieber?“ Was gemein ist, denn bei aller Unsicherheit: Dass die PNP voranschreitet, so viel ist gewiss. „Gibt’s denn genügend Regisseure, die mit Versehrten arbeiten?“ Sie ist böse, diese Diagnose. Sie kann hemmen, trübe Gedanken bereiten.

König geht jetzt rein, muss telefonieren. Draußen Gespräch mit Pollkläsener auf der Holzbank, an der frischen Luft, ob ihn das bewegt, diese Frage mit den fünf Jahren, der Zukunft? „Vielleicht“, sagt Mateng Pollkläsener, „sind das eher die Ängste von Hans.“ Er selbst habe die so nicht. „Ich“, sagt er, „lasse es auf mich zukommen.“ Dass die PNP gerne mehr Beachtung fände, ist schließlich ihr Problem. Nicht seins.

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