Theaterfestival von Santarcangelo: Jung, sachverständig und neugierig
Erwacht das Land endlich aus seiner politischen Narkose? Beim Theaterfestival von Santarcangelo jedenfalls setzen hysterische Lachkrämpfe über die Politik ein Signal.
Santarcangelo ist eine Kleinstadt in der Emilia-Romagna, 20 Minuten landeinwärts von Rimini entfernt, mit wunderschöner Altstadt und einem der berühmtesten Theaterfestivals Italiens. 1971 als Treffpunkt für in- und ausländisches Straßentheater gegründet, findet es heute auf Straßen, Plätzen und Türmen, in Schulen, Kinos, leer stehenden Fabriken und Geschäften im Städtchen und den umliegenden Dörfern statt. Es gibt Theater, Konzerte, Filme, Installationen, Performances und alles dazwischen. Das Publikum ist jung, sachverständig und neugierig, an den beiden Wochenenden belagert es das centro storico rund um die Uhr. Das war schon immer so - früher nannten die Einwohner sie Hippies, heute sprechen sie von Kulturaktivisten.
In den letzten drei Jahren wurde die Festivalleitung an drei berühmte Theatergruppen des Umlands vergeben: zuerst an Raffello Sanzio aus Cesena, dann an Motus aus Rimini und diesmal ans Teatro delle Albe aus Ravenna. Dessen vielfach preisgekrönte Schauspielerin Ermanna Montanari präsentiert nun ein erstaunlich umfangreiches Programm zum Thema "Lattore" (dt.: Schauspieler/Protagonist); erstaunlich vor allem deshalb, weil ihr ohnehin knappes Budget während der Vorbereitungszeit noch einmal drastisch gekürzt wurde.
Die eindrücklichste Aufführung zum Thema heißt "The Plot is the Revolution" und stammt von Motus und Judith Malina. Die Gruppe hat als Krönung ihres hoch erfolgreichen "Antigone"-Projekts die große alte Kämpferin eingeladen, die vor Jahrzehnten die Antigone des Living Theatre war - die 85-jährige Malina und die junge Silvia Calderoni führen nun einen kollegialen Dialog aus Worten und Bewegung. Fasziniert hört man dem szenischen Diskurs zweier Kulturen, zweier Generationen über ästhetische und politische Setzungen zu. Ein Stück Theatergeschichte erwacht zum Leben, ganz unsentimental, packend und herrlich frei. "Just Intonation" vom Masque Teatro aus Forli ist das Gegenstück dazu; hier herrscht Hermetik statt Vermittlung, geht es nicht darum, Erkenntnisse weiterzugeben, sondern eine auswegslose, unheimliche Welt zu beschwören, in der es keine Sprache gibt, nur Dunkelheit und ein Wesen, Mensch oder Tier, das sie durchbricht. Bewegung verwandelt sich in Licht, Licht in Ton und erschafft dabei ein Klima, eine Atmosphäre zwischen Genesis und Kafka. Das ist obsessiv, überspannt, total unverständlich, aber grandios: verwischte Bilder, die jeden aus der Zeit klauben und nicht so bald wieder zurücklassen.
Ganz im Hier und Jetzt
Silvia Bergamasco hingegen, eine hoch verehrte Theater- und Filmschauspielerin, ist ganz im Hier und Jetzt. Sie benutzt die Authentizität des städtischen Rathauses für eine Rede zur gegenwärtigen Kulturpolitik. "Discorso" beginnt mit den üblichen Politikerphrasen und bleibt bei der Besetzung des Teatro Valle in Rom hängen wie eine Schallplattennadel im Rillensprung. Die Delegierte erstickt schier an hysterischen Lachkrämpfen, Schluckauf und Atemnot, während sie die Argumentation in immer absurdere Sprachlosigkeit treibt. Das ist brillant gespielt und konstruiert und sollte in allen Rathaussälen der Republik aufgeführt werden, denn die hanebüchene Kulturpolitik, die das Land heimsucht, lässt sich nicht besser geißeln als mit dieser Zurschaustellung hilflos-bösartiger Ignoranz.
Überhaupt scheint Italien endlich endlich aus seiner politischen Narkose zu erwachen. Seit Berlusconi als verwundbar entzaubert ist, gibt es wieder, wofür das Land früher berühmt war: Massendemonstrationen, Solidarität und Aufruhr. Das Referendum, die Kommunalwahlen, die erneute Geldstrafe für den Premier, selbst die Besetzung des Teatro Valle, um dessen Schließung zu verhindern - es sind hoffnungsvolle Anzeichen. Und wenn man mit den jungen Festivalpublikum spricht, dann wird einem ganz warm ums Herz.
"Unsere Eltern hatten diese 68er Träume, und wir haben erlebt, was daraus geworden ist", sagt Mauro, Schauspieler und Valle-Besetzer, der übers Wochenende nach Santarcangelo gekommen ist. "Das hat uns lange entmutigt. Aber jetzt haben wir angefangen, uns zu wehren." Über einen Monat schon halten sie das Theater besetzt, machen Programm, diskutieren und wollen bleiben, so lange es nötig ist - auch im August, wenn alle anderen in Urlaub fahren. "Wer, wenn nicht wir", sagen sie und: "Wann, wenn nicht jetzt." Das nächste Theater, das verkauft werden soll, ist das Teatro Duse in Bologna; auch dort, so hoffen sie, wird es eine Besetzung geben, "wenn nicht, dann machen wir sie". Das Festival hat 100 Stühle aus Theatern des ganzen Landes, auch von bereits geschlossenen, mit Namensschildern versehen und in einer langen Reihe auf der Piazza Ganganelli aufgestellt - ein eindrucksvoller stummer Protest.
Work in Progress
Eindrucksvoll und laut ist das Laboratorium "Eresia della felicità", das Marco Martinelli vom Teatro delle Albe jeden Abend unter freiem Himmel abhält: 200 Jugendliche aus ganz Italien und der halben Welt, alle in gelben T-Shirts und schwarzen Hosen, singen, tanzen, leben, atmen die Gedichte von Wladimir Majakowski. Einzeln oder zusammen, mit- und gegeneinander rennen und toben sie über den Sand des alten Sferisterio, zu Barockmusik oder einer kunstvoll verlangsamten Internationale. Die Kraft, die Freude und Dynamik der Jugendlichen zieht auch jene Bewohner an, die mit dem Festival sonst nichts zu tun haben wollen - ein Work in Progress, das den leidenschaftlichen Dichter mit leidenschaftlicher Hingabe feiert.
Und auch der Premio Scenario 2011, um den sich 15 junge Gruppen mit je einem Kurzspektakel bewerben, ist eine leidenschaftliche Angelegenheit. Die vier Gewinner werden mit ihren Kurzversionen auf weiteren Festivals vorgestellt, die ersten beiden bekommen außerdem Produktionshilfen, um ihre Aufführungen weiterzuentwickeln. Es ist ein wichtiger und begehrter Preis, mit dem schon so manche Karriere begonnen hat. Die beiden Hauptgewinner in diesem Jahr sind Cia. Matteo Latina (Mattinata/Foggia) und Il Castello di Sancio Panza (Messina). Toi, toi, toi.
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