Theaterfestival Impulse in NRW: Reiskörner werden Statistiken
Köln, Mülheim an der Ruhr und Düsseldorf: Der Trend zur Auflösung der Genre-Grenzen setzt sich auch beim „Impulse“-Festival fort.
Die Wände im großen Saal der Düsseldorfer Kunsthalle sind leer. Besucher stehen locker verteilt am Rand des doch irgendwie Ehrfurcht gebietenden White-Cube Raums, in dem sonst neueste Positionen zeitgenössischer Kunst gezeigt werden. Allenfalls flüsternd begrüßen sich Bekannte, während nebenan im Foyer unbekümmert geredet wird. Dort steht Gregor Jansen, Leiter der Kunsthalle, und ermuntert in ungedämpfter Lautstärke zur Lockerheit: „Die Künstlerin will überhaupt nicht, dass geschwiegen wird!“
Gemeint ist die rumänische Performance-Künstlern Alexandra Pirici, deren Performance „Delicate Instruments of Engagement“ mit zwei Performerinnen und drei Performern gerade abläuft. Die Arbeit ist eine Neuschöpfung für das Festival „Impulse“, das sich als Plattform für die freie Theaterszene im deutschsprachigen Raum versteht und seit 2013 von Florian Malzacher geleitet wird.
Das Theaterfestival läuft bis zum 1. Juli in Köln, Mülheim an der Ruhr & Düsseldorf. Programm: www.festivalimpulse.de
„Decide or else“ (frei übersetzt „Entscheid oder stirb“) – Entscheidungen in Gesellschaft, Politik und Kunst“ lautet in diesem Jahr das weit gefasste Motto des Festivals, das diesmal in Köln, Mülheim an der Ruhr und Düsseldorf veranstaltet wird. Wie es der Trend der Zeit will, ist aus dem reinen Theaterfestival mit Fokus auf Produktionen aus NRW längst ein Ereignis geworden, das Konzert, Schauspiel, Installation, Lecture, Diskussion und nicht zuletzt auch Party bietet und damit auf unvermeidbare Weise auch ein bisschen beliebig geworden ist.
Teil des internationalen Produktionszirkuses
Denn die allermeisten Produktionen sind Teil des internationalen Produktionszirkus, der von den Off-Bühnen längst in die einschlägigen Festivals und Stadttheater eingesickert ist. So finden sich im Spielplan etwa Milo Raus „Five little pieces“, die zum Berliner Theatertreffen geladen waren. Oder „Sorry“ von der Monster Truck-Truppe, das einst vom Schauspiel Leipzig produziert werden sollte, dann nach Skandal in den Berliner Sophiensälen heraus kam. Oder „Hamlet“ von Boris Nikitin, in Basel herausgekommen, und seither weit gereist.
Off-Theater ist eben schon längst nicht mehr Off, sondern fester Bestandteil des sich immer mehr an seinen Grenzen verflüssigenden Betriebs. Und das muss man gar nicht beklagen, denn es ist ein Symptom eines galoppierenden Transformationsprozesses, der mittlerweile alle Genres der Kunstproduktion ergreift.
Nicht zufällig sind wir am Eröffnungswochenende der „Impulse“ in der Kunsthalle und nicht im Theater. Nicht zufällig hat kein Malerfürst, sondern die Künstlerin Anne Imhof bei der Biennale di Venezia mit ihrer „Faust“-Performance den Goldenen Löwen gewonnen. Und nicht zufällig wird ein Künstler wie Samson Young, der sich eigentlich als Komponist versteht, auf Großereignissen der bildenden Kunst wie der Biennale und der documenta herumgereicht.
Performer sind von den Besuchern kaum zu unterscheiden
In der Kunsthalle kann man auf den ersten Blick die Performer von den Besuchern kaum unterscheiden. Doch dann erhebt sich eine kräftige Sopranstimme und singt das Cello-Solo von Camille Saint-Saëns’ “Der Schwan“, und einer der Performer tanzt dazu auf imaginären Spitzenschuhen ein klassisches Solo. Dann formieren sich zwei Darsteller in verrenkten Posen auf dem Boden, was den geschichtskundigen Betrachter an die Bilder der Erschießung der Ceaușescus erinnern soll.
Die Performer reenacten historische, politisch brisante Situationen, aber auch ikonische Kunstwerke wie Rembrandts „Der Raub der Europa“ oder das Abhängen des „Guernica“-Wandbildes in der UNO während Colin Powells Rede zur amerikanischen Intervention im Irak. Die Besucher können verschiedene Anfänge der Performance auswählen, aber nach spätestens einer Stunde wiederholen sich die Teile.
Weiter geht’s mit dem Vernissage-Shuttle in den Ringlokschuppen in Mülheim an der Ruhr. Dort hat die britische Theatergruppe Stan’s Cafe die Installation „Of all the people in all the world“ aufgebaut, eine variable Arbeit, die seit 2003 durch die Welt tourt. Mit Tonnen von Reiskörnern werden Statistiken sichtbar gemacht, indem ein Reiskorn für einen Menschen steht. Kleine und große Hügel sind in Mülheim aufgetürmt: die Brexit-Befürworter neben den Gegnern, kaum zu unterscheiden die Haufen.
Die Scheidungen und die Hochzeiten in Deutschland 2015 – mehr Hochzeiten! Tägliche Besucher der Paarship-Seite in Deutschland – mittelgroßer Haufen. Personen in Pflegeheimen, Singlehaushalte, Mitglieder in allen möglichen Clubs, Einwohner Mülheims, Kölns, über das Mittelmeer Geflüchtete, Ertrunkene, Besucher des letzten Kraftwerk-Konzerts. Trauriges und Heiteres mischt sich, an einem langen Tisch stehen die Mitglieder der Theatertruppe und nehmen Vorschläge entgegen, was mit penibel abgewogenen Reiskörnern visualisiert werden soll.
Am Ende wird der Ringlokschuppen voller Häufchen sein. Diese Installation ist damit also immer anders und neu. Und sie trifft das Motto des Festivals vielleicht besser als die vielen anderen üblichen Verdächtigen des Betriebs, denn sie macht in Zeiten alternativer Fakten Realitäten sichtbar.
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