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»The opera, the opera ist für uns alle da!«

■ Familienfürsorge meets ZDF-Hitparade/ Zusammen mit einer Gruppe Behinderter bei den Stars/ Generalprobe in der Oberlandstraße/ Hanne Haller, Dieter Bohlen oder Mathias Reim live in der Kantine/ Das Klatschen wird nur kurz geübt

Tempelhof. »Hoffentlich kommt auch Halle Halle«, sagt Carsten*, 18, immer wieder ganz aufgeregt, als wir uns pünktlich um 14.30 Uhr vor einer Schöneberger Behinderteneinrichtung treffen. Halle Halle findet er ganz toll. Halle Halle, das ist die berühmte blonde Schlagersängerin Hanne Haller. Wir — das sind sieben teils geistig behinderte, teils autistische Jugendliche, der Sozialarbeiter Reinhard Ulbrich und der taz-Reporter. Hanne Haller, die so toll Am Tag als die Liebe zu uns kam singt, ist ein echter Star. Darüber ist sich die Gruppe einig.

Hanne Haller und all die anderen berühmten Sänger wollen wir heute live erleben. Bei der ZDF-Hitparade in der Tempelhofer Oberlandstraße. Genauer: bei der Generalprobe. Dafür hat Reinhard wieder einmal Karten besorgt und die Kids und jungen Erwachsenen, die er im Rahmen der Einzelbetreuung der bezirklichen Familienfürsorge sonst zu Hause regelmäßig aufsucht, sind völlig aufgekratzt. Schon wegen der komplizierten Anreise mit Bahnen und Bussen und mehrmaligem Umsteigen. Außerdem sind sie mittlerweile echte Hitparadenprofis.

Wir wollen nämlich ganz früh da sein. Insider wie wir sitzen schon eine Stunde vorher in der ZDF-Kantine, einem Flachbau mit dezentem Schultheiß-Charme. Dort sitzen die Stars. Und alle anderen Autogrammjäger. Dieter Bohlen oder Mathias Reim, die in der Gunst des Tempelhofer Stammpublikums ganz oben stehen, erzählen sie, spendieren schon mal tablettweise Cola, damit die Fans hinterher ordentlich klatschen, überhaupt: Bohlen oder Reim — dahinter steht ein Glaubenskrieg unter den Dauergästen, dessen Front auch durch unsere Gruppe verläuft.

Plötzlich ist eine gekonnt gesträhnte Blondmähne am Ecktisch ausgemacht. »Das ist bestimmt ein Star«, sinniert Reinhard noch mit sanfter Ironie — und schon sind alle sieben mit ihren Heften und Poesiealben am Tisch. Eine kleine Gruppe lila beanorakter Schulmädchen mit Sonntagsfrisuren und bunten Zopfspangen setzt sofort begeistert nach. Der Mann signiert auch prompt »Felix« in die Alben. Nun wissen wir bloß nicht, wer das ist. Aber immerhin. Und tiefgelb solariumgebräunt [wohl besser »...vergilbt«, d. s.in] ist er auch.

Ansonsten bleibt die Ausbeute heute gering. Der Mathias-Reim- Fanklub steht eher ratlos, aber offiziös überlegen mit seinen Abzeichen und handsignierten Jeansjacken herum.

Vor den Stahltoren von Studio Eins hat sich inzwischen eine gut 200köpfige Menschenschlange gebildet. Fanklubs mit T-Shirts ihres Idols, unzählige Grundschulkinder, Mamas mit Reichelt-Tüten, zwei Damen mit Pelzjäckchen, viele Ossis, oft in Familienstärke, Rentnerinnen und eine ganze Reihe mehr oder weniger gelungener Kopien der Idole. Das ZDF läßt uns Staffagevolk rüde draußen frieren. 30 Minuten Verspätung. Ab und zu tragen wichtige coole Menschen, die so richtig nach Fernsehen aussehen, Tabletts mit Hamburgern durch die Menge oder eilen beeindruckend aufgeregt mit dicken Aktenbündeln vorbei.

Endlich dürfen wir rein. Überall Sternchen! Glitzerlämpchen! Silber! Laser! Diskokugeln! Eine Märchenlandschaft, in rotes und blaues Licht getaucht. Noch stehen die coolen Fernsehleute in Regimentsstärke herum, gestikulieren, rennen mit geheimnisvoll beschriebenen Plänen um die Kameras herum. Dazwischen Pressefotografen. Plötzlich ungezählte Aahs, Oohs, Glücksgluckser. Rex.

Er isses. Ganz zierlich. Ein Meisterwerk der Schminkkunst und nun nach Roys Ableben der Altmeister an sich. Ja, Rex Gildo persönlich eilt in einer Mischung aus Halbstarken- und Torerodreß kurz vorbei, grüßt artig und verschwindet. Nicht nur die Nerven unserer aufgeregten Kids sind zum Zerreißen gespannt. Rex, Roy, waren das noch Zeiten, als man Deutschlands Schlagersängern noch Hundenamen gab.

Das Klatschen wird nur kurz geübt. Letztes Mal, erfahre ich, da habe der Uwe Hübner, der Moderator, doch glatt gesagt, die böse Presse behaupte, man müsse hier auf Kommando klatschen. Und das stimme doch gar nicht, habe er damals gesagt, jeder dürfe, wann er wolle. Zum Beispiel, wenn er etwas richtig toll finde.

Damals schlug er dann auch gleich vor, was man zum Beispiel toll finden könne, nämlich daß wir heute ein »pur deutsches« Programm hätten. Applaus. Riesenapplaus. Spitze, wird berichtet, war's auch nach der Vereinigung. Da einigte man sich darauf, daß man das Wort gesamtdeutsch so toll finde. Applaus. Gesamtdeutsch. Applaus. Gesamtdeutsch. Riesenapplaus.

Und da ist er. Uwe Hübner in Glitzerbluse und mit wunderschöner Fönfrisur. Applaus. Uwe ist kein richtiger Star. Mehr einer von uns. Aber: Er duzt sich mit den richtigen Stars. Ja, er hat sogar gerade noch mit David Hasselhoff telefoniert. Die ersten Schulkinder werden schon bei der Vorstellung daran ganz verrückt. »Kipp' ein bißchen mehr Super in deinen Privatjet rein, dann schaffst du's noch zur Generalprobe«, hat der Uwe dem David geraten. Wir dürfen also noch hoffen. Denn David ist nun wirklich der Allergrößte. Noch größer als Mathias Reim, darüber sind sich (fast) alle einig.

Uwe sagt noch schnell, wir sollen jetzt alle unserem Nachbarn die Hand geben und wir werden gleich »glanzvolle Namen, tolle Kostüme, die wahren Stars« sehen. Und dann ist die Hölle los. Ein gemischtgeschlechtliches Großensemble namens Amadeus in Rokokogewändern und mit rosa Geigen verfällt plötzlich in ruckartiges Zittern und Zucken, Grimassenschneiden, Dauerstrahlen, der Sound bebt los — und 500 Hände verfallen im Takt in unermüdliches Klatschen. High live. Mozartjahr.

The opera, the opera, the opera heißt das Lied. Trotz teilweisem Playback (?) klappt's mit dem Ti- Äitsch nicht so recht. Si Opera. Der Resttext ist in Deutsch. Refrain: Die Oper ist für uns alle da. Recht so. Danach will Uwe wissen: »Also so würde jetzt Mozart aussehen, wenn er heute leben würde?« Der Leadsänger glaubt, ja.

Startnummer fünf ist Hanne. Am schwarzen Flügel. Ganz bescheiden. Carsten sitzt wie erstarrt, völlig gebannt, hat Riesenaugen. Annegret zappelt vor Begeisterung. Am Tag als die Liebe zu mir kam. Lydia und Frank, unser Liebespaar, kuscheln sich eng auf der Bank zusammen, Glück strömt durch den Saal.

Lydia gilt — fachchinesisch gesprochen — als »nicht wegefähig«, das heißt, sie kann die Stadt nie ohne Begleitung erfahren. Deshalb kommt sie fast nie raus, und will heute unbedingt als letzte nach Hause gebracht werden, um den Ausflug und Berlin überhaupt richtig auszukosten. Als einzige ist sie zum ersten Mal in der Hitparade.

Ja. Endlich. Ja, jetzt isses soweit. Ehrlich, der Privatjet ist doch noch gelandet. David. Annegret hält sich die Augen zu. Kühlt mit den Händen ihre heißen Wangen. Hüpft auf und ab auf der Bank. Und mit ihr unzählige Kids und Hausfrauen im Saal, überall schrille Schreie.

Eine ausgemachte Sauerei. Der da mit dunkler Sonnenbrille wild hereinhüpft und abschwooft, ist bloß ein gewisser David vom ZDF oder so. Der hottet bei Playback nur ab, damit die Kamera proben kann. Buhrufe. Aber Uwe Hübner findet, unser David hat das doch gut gemacht, oder? Stimmt auch wieder. Also doch Applaus.

Dann noch ein Superstar. Zum Trost. Matthias Reim, der Echte. Im Bistro auf der Bühne sitzen die anderen Künstler an kleinen Marmortischchen und sehen aus wie eine Mischung aus vorstädtischer Frisörkunstausstellung, Zuhälterbetriebsausflug und Junkietreffen. Und sie strahlen, strahlen, strahlen. Bis die Lichter angehen...

Und sind so schnell verschwunden. Eine Dame vom ZDF schreit im Feldwebelton in ein Mikrophon: »Bitte verlassen sie soooofort das Studio. Bitte verlassen Sie sooofort das Studio«. Und raus sind wir, in der kalten Tempelhofer Herbstnacht. Draußen warten schon die nächsten.

Die behinderten Jugendlichen aber sind glücklich. Und jagen rüber zur Kantine. Noch einmal auf Starsuche... Ist das nicht Verarschung? frage ich den Familienhelfer. Warum schleppt er sie ausgerechnet hierher? »Soll ich ihnen mein Weltbild aufoktroyieren?« fragt Reinhard Ulbrich zurück. Die Jugendlichen erlernen von ihm die Wegefähigkeit — und bringen ihm im Gegenzug die Namen der Idole bei. »Das hier sehen sie im Fernsehen, das wollen sie erleben. Das sind ihre Träume.« Vor kritischen Kollegen sei diese Marotte jederzeit zu rechtfertigen, übe man doch alleine schon auf der Anreise Gruppenverhalten und Mobilität, U- Bahn-Fahren, Bahnhöfe wiedererkennen, schließlich auch adäquates Verhalten in der Kantine, beim Kellner, beim selbstbewußten Umgang mit völlig verblüfften Stars. Und abends, erzählen die Kids aufgekratzt, gucken sie sich die echte Hitparade noch einmal an — und gucken wie das Ganze nun als kunstvoll geschnittener Bilderregen aussieht. Aber Hanne Haller echt sehen, meint Lydia, ist eben doch echt besser. Thomas Kuppinger

P.S.: Die Albumseiten für den Felix mit den blonden Strähnen aus der Kantine haben sich gelohnt: Ein echter Keyboardmann aus einer Begleitband!

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