The Times stellt ihr Archiv ins Netz: Per Mausklick zum Schafott
Die Londoner Times hat alle ihre Ausgaben von 1785 bis 1985 digitalisiert und stellt sie in der Einführungsphase umsonst auf ihrer Webseite zur Verfügung.
„Marie Antoinette trug ein loses weißes Kleid, und ihre Hände waren hinter ihrem Rücken gefesselt. Mit festem Blick maß sie die Menge. [...] Auf dem Schafott wahrte sie die ihr eigene Ruhe. Nach der Hinrichtung tauchten drei junge Personen ihre Taschentücher in das Blut der Königin. Sie wurden auf der Stelle verhaftet.“
So beschrieb ein Korrespondent am 23. Oktober 1793 in der Londoner Times die Hinrichtung der französischen Königin Marie Antoinette. Die altehrwürdige Zeitung hat jetzt ein Online-Archiv eröffnet, und anhand der komplett digitalisierten Ausgaben lassen sich Exekutionen ungeliebter Monarchen und andere Ereignisse aus zweihundert Jahren Geschichte aus journalistischer Sicht nach verfolgen.
Von 1785 bis 1985 reicht das Fenster in die Vergangenheit. In den kommenden Monaten werden dann auch die folgenden 23 Jahre Zeitungs- und Weltgeschichte auf die Seite gestellt. Unfassbare 20 Millionen Artikel genauso wie alle Fotos, Illustrationen, Werbung und Kleinanzeigen stehen jetzt schon frei zur Verfügung. Registriert müssen User zwar sein, um das Archiv zu nutzen, aber in der Einführungsphase ist der Dienst bis auf unbestimmte Zeit umsonst. Sogar eine Suchfunktion hat das Archiv, in dem man nach Stichworten oder bestimmten Daten recherchieren kann. Die Artikel sind nicht transkribiert, sondern werden auf den Originalseiten dargestellt, auf denen sie einst erschienen. Die Maus mutiert zum Schiebehändchen mit dem man sich auf der Zeitungsseite zum gewünschten Artikel bewegen kann.
Einen leicht surrealen Effekt hat es, geschichtliche Daten wie die französische Revolution in Schlagzeilen zu finden, deren Stil sich so sehr nicht unterscheidet von den Schlagzeilen der Titelseiten des Jahrs 2008. „EXECUTION OF THE QUEEN OF FRANCE“ titelte die Times damals. Als Marie Antoinettes Kopf rollte, war die Times erst acht Jahre alt. 1785 erschien die erste Ausgabe, auch die lässt sich im Internetarchiv betrachten. Da hieß sie noch The Daily Universal Register und war zu einem Preis von „Two-Pence Half Penny“ erhältlich. „In der heutigen Zeit eine neue Zeitung herauszubringen, wo so viele andere in der öffentlichen Meinung bereits etabliert und respektiert sind, ist sicherlich ein beschwerliches Unterfangen,“ begrüßte der Buchdrucker John Walter seine Leser. Drei Jahre später, am 1. Januar 1788, wurde das Blatt zu The Times.
Näher als auf den Seiten eines solchen Archivs kann man dem Traum von der Zeitreise kaum kommen. Mit wenigen Klicks ist man vom revolutionsgeschüttelten Paris weiter gereist in den amerikanischen Bürgerkrieg, zu den Morden Jack the Rippers im Londoner East End, den protestierenden Suffragetten und weiter in die zwei Weltkriege des 20. Jahrhunderts. Im Februar 1847 druckt die Zeitung den Leserbrief eines Marinekapitäns, der versucht, der desinteressierten britischen Öffentlichkeit die Ausmaße der irischen Hungersnot zu beschreiben.„Die Menschen sind bloße Skelette. [...] Nicht ein Haus, in dem wir keine Toten oder Sterbenden vorgefunden hätten.“
Mittels einer kleinen bewegten Grafik im oberen Bereich der Webseite, auf der Jahreszahlen und Ereignisse dargestellt sind, lässt sich durch die Geschichte der Times surfen. Ein Mausklick und wir sind im Fin de Siècle: Oscar Wildes Verhaftung im Jahr 1895 und die nachfolgenden Prozesse sind „ein gar melancholisches und furchtbares Drama“, urteilt ein Gerichtsreporter.
Klick, wir lassen den traurigen Oscar hinter uns und springen zwei Jahrzehnte in die Zukunft. Am 16. April 1912 steht folgender Artikel bemerkenswerterweise erst auf Seite 9: „Titanic gesunken – Große Opferzahl befürchtet“, - in den ersten Reuters-Meldungen vom Abend zuvor wurde noch versichert, niemand sei ums Leben gekommen. Klick – weiter zum 28. September 1938: „Die tschechoslovakische Krise nahm heute eine dramatische Wendung zum Besseren. Herr Hitler [sic] lud Mr Chamberlain, Signor Mussolini und Monsieur Daladier zu einer Vier-Kräfte-Konferenz morgen in München,“ liest sich eine erste erleichterte Ankündigung des Münchner Abkommens.
Online-Archive wie das der Times bieten eine große Unmittelbarkeit der Recherche. Was früher mühsam aus staubigen Schubladen geklaubt werden musste, kann durch diese Neuerung überall und jederzeit von jedem eingesehen werden. Im September letzten Jahres hatte bereits die New York Times ihr Archiv mit allen Artikeln kostenfrei im Internet zugänglich gemacht. Das amerikanische Blatt stellt Nutzern ebenfalls eine Suchmaschine zu Verfügung. Im Gegensatz zur London Times werden alte Artikel jedoch einzeln eingescannt in PDF-Dateien und nicht in der kompletten Originalseite dargestellt.
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