Textsammlung 1968 in Jugoslawien: "Nieder mit der roten Bourgeoisie!"

Was dem Staatsverfall Jugoslawiens vorausging: Eine jetzt auf Deutsch erscheinende Textsammlung macht die Bedeutung des Scheiterns der 68er-Bewegung auf dem Balkan deutlich.

Am Morgen des 3. Juni 1968 klingelte bei der Soziologie-Professorin und ehemaligen Partisanin Zagorka Golubovic das Telefon. Sie müsse umgehend in die Philosophische Fakultät Belgrad kommen, in der Nacht sei es zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Studenten und Polizei gekommen. "Erst Tage später kam ich wieder nach Hause. Wir waren alle eine Woche lang in der besetzten Universität, die von der Polizei belagert wurde", gibt Golubovic zu Protokoll. Im Sommer 1968 waren auch in Jugoslawien Studentenproteste ausgebrochen.

Nachlesen kann man dies in der Text- und Gesprächssammlung "1968 in Jugoslawien - Studentenproteste und kulturelle Avantgarde zwischen 1960 und 1975" von Boris Kanzleiter und Krunoslav Stojakovic, die im September erschien. Unter den Interviewten finden sich neben Golubovic namhafte jugoslawische Intellektuelle wie Bora Cosic, der Soziologe Nebojsa Popov oder die Dramaturgin Borka Pavicevic.

Dass eine solche Sammlung erscheint, wird höchste Zeit, zumal Jugoslawien in den geläufigen Studien zu "1968" bisher ausgespart blieb. Auch die Geschichtsschreibung vor Ort behandelt die Studentenbewegung stiefmütterlich. Und das, obwohl sie die ersten gesamtjugoslawischen Proteste nach dem Zweiten Weltkrieg initiierte. Immerhin galt der Titoismus als Alternative zu Kapitalismus und Stalinschem Sozialismus. Die Auszüge aus den Verfassungen, die Texte des Studentenbundes, von Philosophen und verschiedenen Künstlergruppen, der KP, erstmals in Übersetzungen zugänglich gemacht, erhellen vieles. Während das Telefon bei Golubovic klingelte, zogen bereits Tausende durch die Stadt und besetzten, nachdem sie von der Polizei mit Schüssen auseinandergetrieben wurden, die Philosophische Fakultät Belgrads. Der Schriftzug "Rote Universität Karl Marx" prangte über dem Eingangsportal. Im Innenhof hielt man "Konvente" ab, auf denen Studenten, Professoren, Künstler und Dissidenten sprachen. Armee- und Polizeieinheiten, die aus der Provinz herbeigekarrt werden mussten, belagerten das Gebäude. Während sich in anderen Ländern die Proteste auch gegen die Professoren wandten, teilten diese in Belgrad die Forderungen der Studenten: Verbesserung der Studienbedingungen, Selbstverwaltung, umfassende Demokratisierung, Bekämpfung sozialer Ungleichheiten. Am nächsten Tag kam es auch in den Universitätsstädten Zagreb, Ljubljana und Sarajevo zu großen Demonstrationen.

In der Erklärung der Belgrader Studenten vom 4. Juni hieß es: "Wir haben kein eigenes Programm. Unser Programm ist das Programm der fortschrittlichsten Kräfte unserer Gesellschaft - das Programm des Bundes der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ) und unsere Verfassung. Wir wollen ihre unmittelbare Umsetzung in die Praxis." Das Programm des BdKJ war nach dem 1948 vollzogenen Bruch mit der Sowjetunion entstanden. Es galt als das progressivste aller sozialistischen Staaten.

Die Streikenden hielten Bilder des Präsidenten Tito als Partisanenkämpfer empor. Auch der Studentenslogan "Nieder mit der roten Bourgeoisie!" bezog sich direkt auf den Antibürokratismus, eigentlich eine Forderung des Titoismus. Eine Schlüsselszene des Streiks bot der Auftritt des Schauspielers Stevo Zigon, der den Monolog Robespierres aus "Dantons Tod" rezitierte. Für viele verwies die Rede von der Verkommenheit des Adels auf das Privilegiensystem Jugoslawiens. Der überrumpelte BdKJ befand sich in der paradoxen Situation, auf Proteste reagieren zu müssen, die die Umsetzung der eigenen Grundsätze forderten.

Am 9. Juni fand der Streik mit einer Fernsehansprache Titos ein vorläufiges Ende. Der Präsident gab den Studenten Recht und räumte Versäumnisse ein. Sollte sich die Situation der Studenten nicht bessern, werde er zurücktreten. Sogar die Parteiführung war überrascht. Die Studenten reagierten zwiegespalten, aber erleichtert. Viele feierten, einige tanzen den Kozaracko Kolo, den Siegestanz der Partisanen.

Keine drei Wochen später jedoch nannte Tito die Proteste staatsfeindlich und sah die Praxisprofessoren als Drahtzieher. Da diese als Dissidenten galten, war die Drohung unmissverständlich. Auf neue Proteste reagierte die Parteiführung ungehalten: Die erste Repressionswelle traf die studentischen Organisationen. Die zweite zielte auf deren Publikationen. Da sich die Proteste weiter radikalisierten - es kam zu Solidarisierungen mit streikenden Arbeitern -, folgten Verhaftungen und Prozesse.

Auch abseits der Proteste war in den Sechzigerjahren Bewegung in den eingerosteten Staatsapparat gekommen. Grund war die Flaute, die nach dem ökonomischen Aufschwung - als blockfreies Land hatte Jugoslawien den Marshallplan unterzeichnet - eine Kluft zwischen Städte und Dörfer und die Republiken riss. Arbeiterstreiks und heftige Auseinandersetzungen häuften sich. Die Absetzung des Zentralisten Aleksandar Rankovic leitete 1966 eine Reihe von Verfassungsreformen ein. Die Dezentralisierung führte zu einer "Republikanisierung" der Föderation, die Privatwirtschaft erhielt (begrenzte) Freiheiten, Arbeitsaufenthalte im Ausland wurden ermöglicht.

Im Mischmasch von autoritärer Einparteienherrschaft und Liberalismus lehnten ausgerechnet die westlich orientierten Studenten die "kapitalistische Restauration" durch marktwirtschaftliche Reformen ab, während der jugoslawische Staat gerade durch diese der Krise zu entkommen hoffte. Die Liberalisierung brachte dem System neue Legitimität und stellte es zugleich in Frage.

Die Liberalisierung eröffnete den Kulturschaffenden zunächst neue Handlungsmöglichkeiten. In Philosophie, Literatur, Film und Theater wurde viel experimentiert. Als theoretische Plattform galt der Kreis um die Zeitschrift Praxis. Er trat für einen humanistischen Marxismus ein. Zur ab 1963 stattfindenden "Sommerschule" kamen Geistesgrößen wie Marcuse oder Bloch. Tito tolerierte dies bis 1974, dann wurden in einem spektakulären Prozess acht Praxisprofessoren aus der Uni entfernt.

In der Literatur entwickelten sich sozialkritische Strömungen. Bora Cosic wurde 1970 für das Buch "Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution" der renommierteste Literaturpreis des Landes verliehen, dann wurde es verboten. Eine ganze Reihe von Experimentalfilmen erschien, neue avantgardistische Theaterstücke wurden in ganz Jugoslawien zum festen Bestandteil der Protestkultur. Doch auf den Aufbruch im Jahre 1968 folgte die Beschränkung kultureller und politischer Freiheiten.

Die Regionalisierung war auch an der Studentenbewegung nicht spurlos vorübergegangen. Zwar begriff sie den Nationalismus der Republikkader, die durch die Reformen mächtig geworden waren, und lehnte ihn ab. Trotzdem gab es auch unter den Studenten Tendenzen, mit nationalistischen Dissidenten gemeinsame Sache zu machen. Mal wurde ein serbischer Heimatdichter eingeladen, dann eine Petition für Franjo Tudjman verabschiedet. Seinen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der nationalistischen Massenbewegung "Kroatischer Frühling". Studenten der Universität Zagreb streikten 1971 für die Autonomie Kroatiens. Der BdKJ reagierte mit tausenden Verhaftungen.

Der Legitimationsverlust, den das sozialistische Jugoslawien in den Auseinandersetzungen mit den Studenten erlitt und der im Folgenden von nationalistischen Kräften vorangetrieben wurde, trug zum Zerfall des Staates bei. Nachdem die projugoslawische Linke zerschlagen war, gab es gegen die Verfassung von 1974, in der die Dezentralisierung vollendet wurde, kaum mehr Widerstand. Dem wilden Nationalismus der folgenden Jahre wurde so der Weg geebnet.

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