Texte von André Müller: Schönheit, Glück und Hass
André Müller personifizierte die Kunst des Gesprächs. Das zeigt erneut ein Kompendium seiner Interviews und Texte, Gespräche und Porträts, die eine Rettung sind.
Man muss sich vorstellen, wie schwer das ist. Der Mutter Fragen zu stellen. Mit ihr am Tisch zu sitzen, mit all der Liebe, mit all den selbstbefriedigenden Schuldzuweisungen, die man so hat. Du hast mich in die Welt geworfen, wie hältst du das aus? So in etwa. Man kann diese Fragen kaum stellen. Man kann fragen: Wie war der Moment, als der Krieg aus war? So was.
Aber meistens hat man dann schon Wein getrunken oder weiß, dass die Zeit drängt. "Zu mir hast du immer gesagt, das Einzige, was du dir wünschst, ist, dass ich glücklich bin. Das ist eine unglaubliche Forderung", hat André Müller zu seiner Mutter gesagt und hat es dann auch noch in der Zeitung veröffentlicht.
Der 1946 in Brandenburg als Sohn eines Besatzungssoldaten geborene Müller macht das mit seiner Mutter über Stunden, über Seiten. Geht so weit, zu fragen, ob seine Zeugung auf einer Vergewaltigung beruht. Es ist eines der Interviews, für das er am meisten Beachtung bekam. Und es zeigt die wiederkehrende Frage des beruflichen Fragestellers: Wie kann man glücklich sein in einer Welt, die unerträglich ist?
André Müller ist in diesem Jahr gestorben, und wenn man ihn Wochen vor seinem Tod fragte, ob man ihn in München, wo er wohnte, treffen könne, um ihn zu interviewen, antwortete er, dass es ihm gesundheitlich zurzeit leider nicht möglich sei, er sich aber melden werde, sobald es ihm besser gehen würde.
Dass jemand, der im Endstadium einer Krebserkrankung mit Besserung rechnet, zu fideleren Zeiten mit dem Leben haderte, ist dann doch überraschend. Umso mehr rührt die Aussage über das in Aussicht gestellte Treffen.
Es gibt einige Stellen in der nun erschienenen Interview- und Textsammlung "Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe", die vom Krebs handeln. Bei Luc Bondy oder bei Schlingensief etwa. Das verursacht Unbehagen. Aber wie schreibt Müller in dem Text zu Schlingensief: "Mich stört die Sensationslust der Zuschauer, die sich als Mitgefühl tarnt."
Es gibt keine besseren Interviews
André Müllers Werk ist eines der großen literarischen Schätze, und man muss entschieden dazu raten, dieses Buch zu kaufen, es zu lesen, es noch einmal zu kaufen und in den nächsten Monaten an alle Freunde zu verschenken, denn es funktioniert journalistisch, zeitgeschichtlich und literarisch.
Das liegt unter anderem daran, dass es keine besseren Interviews gibt, und es liegt auf der anderen Seite daran, dass die von Müller Interviewten Personen der Zeitgeschichte sind. Günter Grass, Dolly Buster, Leni Riefenstahl, Salman Rushdie, Gerhard Richter. Aber was Müller, der nicht über seinen Gesprächspartnern stand, aber auch nie uninteressanter war als sie, aus diesen Gesprächen macht, ist mehr als Zitate für die Agenturen.
Es sind die großen Themen, die bei ihm verhandelt werden. Die Frage nach Glück, Hass, Schönheit. Männerrollen und Frauenrollen. Die Abgrenzung von den Anderen. Das ist das Schmerzvolle und Schmerzhafte, das bei ihm ewig durchscheint. Die Abhängigkeit zwischen Dummheit und Frohsinn. Es geht um das Schöne des Ausweglosen. Das Glück des Denkens, das Unglück, zu wissen. Oder andersherum.
Wallraff behauptet etwa, er sei "gerne blöd", und im Schlusssatz lässt Müller ihn sagen, dass die Weisheit des Narren darin bestehe, sich dumm zu stellen. In dem grandiosen Interview mit Elfriede Jelinek - die auch das Vorwort zu dem Band geschrieben hat -, das fast wie eine Komödie erscheint, doch nie albern wirkt, sagt die Autorin: "Ich bin tatsächlich dumm." Und Müller sagt zu ihr: "Sie sollten sich damit abfinden, dass Sie etwas Besonderes sind."
Das Gespräch mit Lagerfeld ist fast zur Hälfte zensiert
Fast nebenbei sagen die Interviewten dann noch das, was sich die Zeitungsverleger wünschen, das Kontroverse. Houellebecq spricht über den blöden Islam, Buster über Gefühle beim Pornosex, Jelinek über ihre Phobien. Müller streichelt seine Gesprächspartner mit geschärften Fragen. Er ist so gut vorbereitet, dass er immer wieder aus Werken oder früheren Interviews zitieren kann.
Er deutet sein Gegenüber. So entstehen tanzartige Konversationen. Echte Gespräche vielleicht. Seine Charakterisierungen sind meist der Sympathie für den Interviewten zuträglich. Und dennoch hat er oft mit Widerstand zu kämpfen gehabt. Der Titel des Bandes ist ein Ausspruch von Alice Schwarzer, und das Gespräch mit Lagerfeld ist fast zur Hälfte zensiert. Aber gerade das ist natürlich der Clou.
Man sehe in André Müller einen "Spezialisten für das Abgründige", heißt es in dem Buch. Immer wieder zitiert er Thomas Bernhard, der ihn unüberlesbar fasziniert. Zu Grass sagt er: "Wie trösten Sie jemanden, der sich in dunklen Momenten, von Zweifeln verfolgt, wünscht, wie schon Sophokles formulierte, ,nicht geboren zu sein'?" Und die erste Frage, die er Houellebecq stellt, ist, ob dieser je versucht habe, sich das Leben zu nehmen.
"Zwei Untergeher beim Versuch, sich redend zu retten", heißt es in der Rede zur Verleihung des Ben-Witter-Preises im Jahr 2000, am Ende des Buches, über die Arbeit von André Müller. Trotz all ihrer schwerwiegenden Tiefe sind diese Gespräche und Porträts so fein und herzlich, so liebevoll, dass sie wirklich eine Rettung sind.
André Müller: "Sie sind ja wirklich eine verdammte Krähe". Langen Müller Verlag, München 2011, 368 Seiten, 19,99 Euro
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